Sexuelle Belästigung am Arbeits­platz: Was tun als Führungs­kraft?

Redaktion
IKK classic

Es sind alarmierende Zahlen, die eine empirische Studie zur sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz, die im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes von Juni 2018 bis Mai 2019 durchgeführt wurde, aufzeigt: Mit insgesamt neun Prozent der Befragten war etwa jede elfte erwerbstätige Person im Zeitraum der letzten drei Jahre von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz betroffen.

Frauen haben mit einem Anteil von rund 13 Prozent signifikant häufiger als Männer mit einem Anteil von fünf Prozent sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz erlebt. Von allen Betroffenen waren gut drei Viertel weiblich und ein Viertel männlich. Häufig trifft es jedoch auch homo- oder bisexuell orientierte oder transgeschlechtliche Menschen sowie Menschen mit Behinderung oder Migrationshintergrund. Insgesamt wurde in der Studie eine große Bandbreite an Formen und Schweregraden von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz sichtbar. Zumeist handelte es sich nicht um einmalige, sondern um wiederholte Belästigungen. Diese werden von jeder zweiten bis dritten betroffenen Person als psychisch belastend, erniedrigend und/oder beschämend wahrgenommen. Ein Risiko für sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz zeigt sich in allen Branchen, ist aber der vorliegenden Studie nach relativ am häufigsten in Berufsfeldern des Gesundheits- und Sozialwesens, in Kunst/Unterhaltung, Handel, Verkehr, Wasser- und Energieversorgung sowie im Bereich Erziehung und Unterricht zu finden (zur kompletten Studie).

Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sind hierbei in der Pflicht: Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) verpflichtet sie bei sexuellen Übergriffen zu handeln. Doch was können sie tun? Ab wann müssen sie einschreiten? Und lassen sich sexuelle Übergriffe vermeiden? Alle wichtigen Fragen beantwortet Florian Hock, Arbeitsrechtsexperte bei der Rechtsanwaltskanzlei Labisch in Mainz, im Interview.

Arbeitsrechtsexperte im Interview: Richtig handeln bei sexueller Belästigung

Sexuelle Belästigung kann vom Abschiedskuss bis zur Pornographie reichen

  • Herr Hock, was konkret versteht man unter sexueller Belästigung?

    Sexuelle Belästigung wird in der Regel als unerwünschtes, sexuell bestimmtes Verhalten definiert, das bezweckt oder bewirkt, dass die Würde einer anderen Person verletzt wird. Dabei kommt es gar nicht darauf an, dass das Verhalten vorsätzlich geschieht. Es genügt, dass die betroffene Person dieses als Belästigung empfindet. Maßgeblich ist allein, ob die Unerwünschtheit der Verhaltensweise objektiv erkennbar war.

    Unter sexueller Belästigung versteht man insbesondere körperliche Berührungen, aber auch Bemerkungen sexuellen Inhalts oder das Zeigen pornographischer Abbildungen, etwa in Chats oder per E-Mail. Ob ein bestimmtes Verhalten als sexuelle Belästigung gewertet wird, hängt davon ab, ob es sozialadäquat war. Es ist daher stets auch der Kontext beziehungsweise vorangegangenes Verhalten zu berücksichtigen.

    So kann etwa ein Abschiedskuss auf die Wange unter guten Bekannten möglicherweise noch sozialadäquat sein, in anderen Fällen aber als Belästigung wahrgenommen werden.

  • Gibt es sexuelle Belästigung auch im Homeoffice?

    Wenn viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, wie aktuell während der Corona-Pandemie, ausschließlich über Telefon, per Videochat oder über andere virtuelle Kommunikationsmittel miteinander interagieren, so finden sexuelle Belästigungen insbesondere verbal oder visuell statt.

    Eine verbale sexuelle Belästigung wäre zum Beispiel folgende Situation: Ein Mitarbeiter bringt gegenüber seiner Kollegin zum Ausdruck, dass er ihr Aussehen attraktiv findet und er einem Seitensprung nicht abgeneigt wäre. Eine sexuelle Belästigung kann darüber hinaus auch nötigenden oder beleidigenden Charakter haben. In solchen Fällen ist in der Regel auch die Schwelle zur Strafbarkeit überschritten.

Sexuelle Belästigung liegt vor, sobald die betroffene Person ein Verhalten als solche empfindet – auch wenn es nicht vorsätzlich geschieht.

Florian Hock, Arbeitsrechtexperte

Unternehmen müssen vorbeugen

  • Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sind gegenüber ihren Angestellten per Gesetz schutzverpflichtet. Doch was können sie tun?

    Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sind nach dem AGG dazu verpflichtet, ihre Mitarbeitenden vor Persönlichkeitsverletzungen und daher auch vor sexueller Belästigung zu schützen. Diese Pflicht beginnt allerdings nicht erst, nachdem sich ein Vorfall ereignet hat. Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber müssen bereits präventiv tätig werden, um derartige Fälle zu verhindern.

  • Welche vorbeugenden Maßnahmen können Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber in ihrem Unternehmen implementieren?

    Klassischerweise geschieht dies durch entsprechende Hinweise und Schulungen. Auch die Einführung eines Verhaltenskodex‘ kann eine geeignete Maßnahme sein. Gesetzlich verpflichtend ist die Bestimmung einer zuständigen Stelle, bei der Mitarbeitende, die belästigt wurden, einen Vorfall anzeigen und ihr Beschwerderecht ausüben können. Meist ist das die oder der jeweilige Vorgesetzte. Die Einrichtung einer speziellen Beschwerdestelle ist hingegen nicht obligatorisch, aber empfehlenswert.

  • Wie lässt sich verifizieren, dass tatsächlich eine sexuelle Belästigung stattgefunden hat? Sicher steht da oft Aussage gegen Aussage …

    Im Falle einer gemeldeten Belästigung kommt der Ermittlung des wahren Sachverhalts eine ganz wesentliche Bedeutung zu. In einem ersten Schritt finden zunächst Einzelgespräche mit der betroffenen und der angeschuldigten Person statt.

    Weitergehende Maßnahmen, wie etwa die Befragung weiterer Personen oder die Einsichtnahme in E-Mails, Chatverläufe oder Videomaterial kommen ebenfalls in Betracht. Wichtig ist hierbei die Einhaltung des Datenschutzes – insbesondere dann, wenn es um ein Kommunikationsmittel geht, das die angeschuldigte Person auch privat nutzen darf.

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Was nach einem Vorfall zu tun ist

  • Wie sollten Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber mit Anschuldigungen umgehen?

    Sobald eine betroffene Person sich an die Arbeitgeberin oder den Arbeitgeber gewandt hat, sollte diese oder dieser unverzüglich tätig werden. Denn nur dann können sie ihrer Schutzpflicht in ausreichender Weise nachkommen. Sollte sich die Anschuldigung nicht ausräumen lassen, so dürfte in aller Regel eine arbeitgeberseitige Maßnahme erforderlich werden. Diese kann von einer Ermahnung, Abmahnung oder Versetzung bis hin zu einer fristlosen Kündigung reichen.

    Eine fristlose Kündigung beispielsweise muss jedoch binnen zwei Wochen ab Kenntnis des Kündigungsgrundes ausgesprochen werden, sodass die Maßnahme als solche bereits die Dringlichkeit vorgibt. Zunächst sollte deshalb eine umfassende Sachverhaltsdarstellung der betroffenen Person eingeholt werden. An dieser Stelle ist große Sorgfalt gefragt. Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sollten auf keinen Fall falsche Zurückhaltung an den Tag legen, wenn sie die betroffene Person um eine Schilderung bitten. Nur eine umfassende Kenntnis des Sachverhalts ermöglicht es, geeignete Maßnahmen zu treffen. Die Schilderungen sollten zudem detailgetreu protokolliert werden. Dadurch wird die Arbeitgeberin oder der Arbeitgeber stets das eigene Handeln rechtfertigen können – etwa wenn sich im Nachhinein ein abweichender Sachverhalt ergibt.

  • Wie sieht dann der nächste Schritt aus?

    Die angeschuldigte Person sollte nun mit den Vorwürfen konfrontiert und ihr die Möglichkeit der Stellungnahme eingeräumt werden. Streitet sie die Vorwürfe ab, so sollten alle weiteren zur Verfügung stehenden Mittel ausgeschöpft werden, um den Sachverhalt zu ermitteln. Bleibt dieser letztlich weiterhin ungeklärt, kann ein dennoch verbleibender Verdacht arbeitsrechtliche Konsequenzen bis hin zur Kündigung rechtfertigen.

    Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern sollte dennoch bewusst bleiben, dass auch gegenüber der angeschuldigten Person Schutzpflichten bestehen, sofern es sich um einen Arbeitnehmer oder eine Arbeitnehmerin handelt. Ein ungefiltertes Zu-eigen-Machen der Anschuldigung verbietet sich daher und wird eine daraus resultierende arbeitsrechtliche Maßnahme leicht angreifbar machen.

  • Wie kann sich eine Arbeitgeberin oder ein Arbeitgeber verhalten, wenn sich nicht die betroffene Person selbst beschwert, sondern eventuell ein Kollege oder eine Kollegin?

    Die Schutzpflicht gilt unabhängig davon, durch welche Person die Arbeitgeberin oder der Arbeitgeber von der Persönlichkeitsverletzung erfährt. Sollte die betroffene Person allerdings selbst keine Aussage treffen wollen, erschwert das eine ganzheitliche Ermittlung des Sachverhalts. Eine unzureichende Informationsbasis bedeutet eine größere Rechtsunsicherheit – die in der Folge getroffener Maßnahmen stehen so auf wackligen Füßen.

Führungskräfte sollten sich nicht scheuen, unangenehme Fragen zu stellen. Nur wer den Sachverhalt kennt, kann geeignete Maßnahmen treffen.

Florian Hock, Arbeitsrechtexperte

Bei sexueller Belästigung schnell und angemessen handeln

  • Ab wann müssen Arbeitgeberinnen oder Arbeitgeber einschreiten? Wie sehen die rechtlichen Bestimmungen aus?

    Die Pflicht, tätig werden zu müssen, beginnt in dem Moment, in dem die Verantwortlichen von einer behaupteten Persönlichkeitsverletzung erfahren. In sachlicher Hinsicht muss eine Persönlichkeitsverletzung also zumindest erst einmal im Raum stehen. Die Verantwortlichen sind die gesetzliche Vertreterin oder der gesetzliche Vertreter des Unternehmens oder andere Personen, die für die Erfüllung der arbeitsvertraglichen Pflichten zuständig sind, insbesondere die Personalleiterin oder der Personalleiter.

  • Sie sagten, der Maßnahmenkatalog bei der Sanktionierung von Fehlverhalten reiche von der Ermahnung bis hin zur fristlosen Kündigung. Wie finden Vorgesetzte das richtige Maß?

    Bei der Wahl des geeigneten Mittels zum Schutz der Betroffenen muss das für den Täter oder die Täterin mildeste Mittel ausgewählt werden. Es gilt insoweit der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Die Zielrichtung der Maßnahme muss zudem stets auf die Prävention wiederholter Verstöße gerichtet sein. In Fällen eines Augenblickversagens, in denen der Täter zudem Reue zeigt, wird oftmals eine Abmahnung ausreichen. Auch eine Versetzung des Täters kommt infrage, wobei das schwieriger sein kann, wenn die betroffene Person dem nicht zustimmt. Möglicherweise kann es auch ausreichen, den Täter einer anderen Schicht zuzuweisen.

    Sexuelle Belästigungen schwerwiegender Art können auch einen Grund zur fristlosen Kündigung darstellen. Diese für den Täter drastische Maßnahme ist das letzte Mittel, sollte jedoch in jedem Fall zumindest in Erwägung gezogen werden. Welche Maßnahme letztlich als geeignet und verhältnismäßig in Betracht kommt, muss im Einzelfall beurteilt werden.

Aktiv werden gegen sexuelle Belästigung

Mit diesen sechs Tipps können Sie sexueller Belästigung in Ihrem Betrieb effektiv vorbeugen und im Ernstfall schnell handeln.

  • Neutrale Person als Beschwerdestelle bestimmen

    Per AGG sind Sie dazu verpflichtet, eine zuständige Stelle zu bestimmen, gegenüber der betroffene Mitarbeitende einen Vorfall anzeigen können. Wenn möglich, bestimmen Sie hierfür eine Person in Ihrem Betrieb, die eine größtmögliche Neutralität zur Belegschaft hat. Dies dürfte Betroffenen die Entscheidung erleichtern, den Vorfall tatsächlich zu melden.

  • Regelmäßige Schulungen durchführen

    Schulen Sie Ihre Mitarbeitenden regelmäßig, um sie für das Thema zu sensibilisieren. Vor allem Personalverantwortliche sollten verpflichtende Fortbildungen zum richtigen Umgang mit sexueller Belästigung erhalten.

  • Verhaltenskodex einführen

    Führen Sie einen Verhaltenskodex ein, sogenannte Compliance-Regeln. Darin sollte genau definiert werden, wo sexuelle Belästigung anfängt und welche Verhaltensweisen zu unterlassen sind.

  • Stellung beziehen

    Machen Sie deutlich, dass Sie es als Ihre persönliche Aufgabe betrachten, sexuelle Belästigung im Betrieb zu verhindern und dass in derartigen Angelegenheiten größtmögliche Diskretion herrscht.

  • Betriebsvereinbarung entwickeln

    Entwickeln Sie eine Betriebsvereinbarung, die den Umgang mit Fällen sexueller Belästigung regelt. Darin sollte geregelt sein, an wen sich Betroffene wenden können und was als nächstes passiert.

  • Die Augen offen halten

    In einer bestimmten Abteilung in Ihrem Betrieb herrscht eine erhöhte Fluktuation? Hier sollten Sie aufmerksam hinschauen. Nicht selten kommt es vor, dass erst im Rahmen eines Kündigungsrechtsstreits wegen sexueller Belästigung herauskommt, dass zuvor bereits andere Mitarbeitende von einer bestimmten Person übergriffig behandelt wurden.

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Veröffentlicht am 19.03.2021

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