Ernährung bei Krebs und Leben mit der Diagnose: Interview mit Verena und Achim Sam

Verena Sam führt ein gesundes Leben. Die Fitnesstrainerin raucht nicht, treibt viel Sport und ernährt sich gesund. Doch im Sommer 2018 erhält sie eine schockierende Diagnose: Brustkrebs im fortgeschrittenen Stadium. Im Buch "Der Krebs-Kompass" erzählen sie und ihr Mann Achim Sam, wie sie gelernt haben damit zu leben. Uns verraten sie die wichtigsten Erkenntnisse und ob Ernährung bei Krebs hilft.

Im März 2022 hat Verena Sam den langen Kampf gegen den Krebs leider verloren. Beim folgenden Artikel handelt es sich um eine Momentaufnahme aus dem Jahr 2020, die Betroffenen Mut machen soll. 

 

Damit hatte Verena Sam nun wirklich nicht gerechnet. Viele Risikofaktoren für Brustkrebs sind aufgrund ihres gesunden Lebensstils eigentlich ausgeschlossen. Dennoch hat sie Krebs – und die Diagnose traf sie im Alter von nur 35 Jahren.

Für sie und ihren Partner Achim Sam, Ernährungswissenschaftler und Host unserer Video-Reihe "Gutes Essen, schlechtes Essen", kam der Befund quasi aus dem Nichts. Doch Aufgeben kam für beide nicht in Frage. Stattdessen haben sich Verena und Achim Sam auf die Suche nach einer erfolgversprechenden Therapie begeben.

Ihre persönliche Geschichte, verbunden mit Erkenntnissen über neueste Therapiemöglichkeiten, erzählen die beiden im Buch "Der Krebs-Kompass: Wie wir mit Krebs leben lernen" (C. Bertelsmann). Dafür hat das Ehepaar Sam zahlreiche Studien und relevante wissenschaftliche Veröffentlichungen durchgearbeitet sowie führende Experten auf dem Gebiet der Krebsforschung miteinbezogen. Warum sie mit dem "Krebs-Kompass" vor allem anderen Betroffenen Mut machen wollen, wie es ihnen aktuell mit der Diagnose geht und welche Rolle die Ernährung bei einer Krebserkrankung spielt, verraten uns Verena und Achim Sam im Interview.

Frau Sam, wie geht es Ihnen derzeit?

Verena Sam: Zum Glück relativ gut. Ich habe vor Kurzem meine erste Chemotherapie hinter mich gebracht. Das konnte ich zwei Jahre lang verhindern, aber jetzt war es doch notwendig. Ich habe ein paar Nebenwirkungen, aber die halten sich im Rahmen.

Achim Sam: Es wurde schon so dargestellt, als ob Verena eine Chemotherapie-Gegnerin sei. Das stimmt so nicht. Es geht darum, den eigenen Organismus wieder zu aktivieren, das Immunsystem gegen den Krebs zu richten. Derzeit versucht man bei Verena, die Krankheit kleiner zu machen und dann eine weitere hochexperimentelle Immuntherapie anzuschließen. Es ging uns immer um eine Verzahnung der klassischen Leitlinien-Therapien mit neuen Verfahren, damit Verena entgegen der Prognose langfristig eine Überlebenschance hat.

Es soll viele Lebensmittel geben, die angeblich gegen Krebs helfen. Welche Erkenntnisse haben Sie hier gesammelt?

Achim Sam: Zunächst einmal, dass es bei Ernährung nicht um Heilung geht, sondern um Unterstützung. Zum anderen, dass mit einer gewissen Ernährung die Nebenwirkungen geringer sind. Dass man viel Essen soll, um gut zu regenerieren, ist überholt.

Verena Sam: Ich denke, dass ich mit meinem Sport und einer guten Ernährung meinen Körper unterstützen und manchen Nebenwirkungen entgegenwirken kann.

Bei Ernährung geht es nicht um Heilung, sondern um Unterstützung.
Achim Sam

Wie groß war bei Ihnen am Anfang die Verunsicherung in Sachen Ernährung?

Achim Sam: Obwohl ich Ernährungswissenschaftler bin, war ich anfangs überfordert. Ich stand im Supermarkt und wusste nicht mehr, was ich kaufen soll. Der Konflikt bestand darin, dass Verena einen hormonabhängigen Krebs hat und die Leitlinientherapie zur Aufgabe hat, bestimmte Hormone wie Östrogen zu unterbinden, um die Erkrankung zu hemmen. Gleichzeitig wurde uns geraten, komplett auf tierische Produkte zu verzichten. Nur wenn man sich dann ausschließlich vegan ernährt, besteht das Problem, dass in pflanzlichen Lebensmitteln wie z. B. in Soja sogenannte Phytoöstrogene enthalten sind, die eine hormonähnliche Wirkung haben und somit in einem zu hohen Maße in der Ernährung wiederum einen negativen Einfluss auf die Therapie haben können. Ich war total verunsichert, denn jedes Fass, das man aufmacht, wirft neue Fragen auf.

Verena Sam: Vieles, was sich am Anfang vielversprechend anhört, hat letztlich auch eine Kehrseite. Du bekommst so viele Tipps und gut gemeinte Ratschläge zu hören. Zum Beispiel, dass Sellerie oder grüner Tee den Krebs bekämpfen. Aber bei grünem Tee, um bei diesem Beispiel zu bleiben, kann es auch sein, dass sein hohes antioxidatives Potenzial letztlich dazu führt, dass nicht nur die guten Zellen, sondern auch Krebszellen während einer Chemotherapie geschützt werden. Analog verhält es sich mit hohen Dosierungen von Vitamin C. Das ist dann die Kehrseite.  

Achim Sam: Man muss verstehen, dass Krebs eine individuelle Erkrankung ist. Wenn du 100 Patienten hast, die Darmkrebs haben, sind das 100 verschiedene Erkrankungen mit 100 verschiedenen Krankheitsverläufen, die aber meist einheitlich behandelt werden. Das ist jedoch wenig zielführend oder zumindest für den individuellen Patienten nicht maximal wirksam. Man muss das Thema Krebs sowohl in der Medizin, als auch bei den unterstützenden Maßnahmen individueller angehen und denken. Das Maß, das Verena an Sport macht, könnte man jetzt nicht auf meine Mutter übertragen. Man muss für sich den richtigen Weg und das richtige Maß finden.

Man muss verstehen, dass Krebs eine individuelle Erkrankung ist.
Achim Sam

Ist Ihnen das gelungen, Frau Sam?

Verena Sam: Ich musste aufpassen, dass ich nicht zu dogmatisch werde. Ich ernähre mich überwiegend vegan, aber wenn ich mal Lust auf ein Stück Käse habe, esse ich das auch – ohne schlechtes Gewissen. Wenn mein Körper mir sagt, ich habe da gerade Appetit darauf, mache ich das. Wenn ich mir aber Stress mache und ein schlechtes Gewissen habe, ist das auch nicht förderlich. Da muss man versuchen, ein Mittelmaß zu finden und auch mal das essen, worauf man Lust hast. 

Achim Sam: Es geht bei Krebs vor allem um eins: Stressvermeidung. Da sollte man eine gewisse Resistenz entwickeln.

Sie schreiben in ihrem Buch, dass es keine Zauberformel für gesunde Ernährung gibt.

Achim Sam: Die gibt es auch nicht, weder für die Medizin noch die Ernährung oder die Bewegung bei Krebs. Wir sind gerade dabei, zu verstehen, dass ein Organismus unterschiedlich funktioniert. In der Medizin ist es so, dass pauschal mit Leitlinien behandelt wird. Wie gesagt, 100 Patienten mit Darmkrebs bekommen zu 100 Prozent die gleiche Therapie, die schlägt aber längst nicht bei allen Patienten gleichermaßen an. Hier findet gerade ein Paradigmenwechsel statt – dahingehend, dass Therapien zukünftig individueller werden, um bessere Therapieerfolge zu erzielen und auch Patienten mit systemischen Krebserkrankungen besser helfen zu können.  

Verena Sam: Es lohnt sich definitiv, sich nicht nur mit der medizinischen Behandlung auseinanderzusetzen, sondern auch mit Themen wie Ernährung, Bewegung und Psyche! Aber jeder Betroffene muss individuell für sich herausfinden, was und welches Maß für ihn selbst gut ist.

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Sie raten Krebspatienten, für sich selbst den richtigen Ernährungsplan zu finden?

Achim Sam: Nein, schon gar keinen festen Ernährungsplan – der würde doch nur zusätzlich Stress bereiten. Und den gilt es ja in erster Linie zu vermeiden. Man sollte am besten selbst erkennen, was einem gut tut und sich seine eigene Religion bauen. Und: Es muss auch nicht alles eindeutig mit Studien belegt sein. Ich habe Verena am Anfang Hülsenfrüchte bis zum geht nicht mehr reingedrückt, ganze Knoblauchknollen, weil die vermeintlich gut fürs Blut sind.

Verena Sam: Nach dem Motto „viel hilft viel“.

Achim Sam: Das Ergebnis war, dass Verena letztlich nachts nicht mehr schlafen konnte, weil sie so starke Bauchschmerzen bekommen hat. Und schlechter Schlaf kann wiederum die Mortalitätsrate bei Krebserkrankungen erhöhen. Man muss also abwägen. Deshalb war es für Verena besser, nicht mehr so spät so viele Hülsenfrüchte und Knoblauch zu essen. Das habe ich schnell eingesehen.

Verena Sam: Es geht wie bei vielen Sachen um die richtige Balance. Dass man für sich das richtige Gleichgewicht findet zwischen dem, was wissenschaftlich belegt ist, und was einem selbst spürbar guttut.

Frau Sam, welchen Stellenwert haben Sport und Bewegung für Sie?

Verena Sam: Am Anfang haben viele gesagt: Mach mal lieber weniger. Aber mein Körper hat mir von Anfang an gesagt, dass ich mich mit Sport gut fühle und wenn dir dein Körper intuitiv sagt, das brauche ich gerade und sich damit wohl fühlt, kann es auch nicht falsch sein.

Achim Sam: Ich habe wirklich Bauklötze gestaunt, als Verena die schweren Gewichte gestemmt und ihre 400 Step-ups gemacht hat. Aber mit dem schweren Training hat Verena intuitiv genau das Richtige gemacht, um präventiv gegen die Osteoporose vorzugehen. Mittlerweile weiß man auch durch Studien, dass Krafttraining bei bestimmten Krebsarten, insbesondere Brustkrebs, Wunder wirkt gegen Nebenwirkungen. Und für Verena bedeutet ihr Training ganz viel Lebensqualität.

Verena Sam: Ein Leben mit Krebs kann auch ein gutes Leben sein, wenn man versucht, seine Lebensqualität mit den Dingen zu erhalten, auf die man Einfluss hat. Wenn man aber nicht so aussieht, wie sich viele eine Krebskranke vorstellen, also fit und auch noch gutaussehend, bekommt man oft Vorurteile zu spüren, dass alles gar nicht so schlimm sein kann. Hier muss sich das Denken ein Stück weit wandeln.

Ein Leben mit Krebs kann auch ein gutes Leben sein.
Verena Sam

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Frau Sam, Sie leben sehr gesund. Fanden Sie die Krebsdiagnose ungerecht?

Verena Sam: Jeder würde so eine Diagnose im ersten Moment als ungerecht empfinden. Aber ich habe mich dann gefragt: Warum soll es mich nicht treffen?

Achim Sam: Es bringt nichts, sich das Gehirn zu zermartern, warum es einen getroffen hat. Es geht darum, wie man damit leben kann.

Verena Sam: Ich habe mir relativ schnell die Frage gestellt, was mir die Diagnose eigentlich sagen will und habe mich mit ihr auseinandergesetzt. Wenn ich jahrelang wie ein Schlot geraucht hätte, hätte ich mir vielleicht mehr Vorwürfe gemacht. Letztendlich habe ich mich darauf fokussiert, wie ich den Krebs loswerden oder zumindest lange damit leben kann.

Über Verena und Achim Sam

Verena Sam, Jahrgang 1982, ist ausgebildete Fitness-Trainerin und Personal-Coach. Ihr Mann Achim Sam (40) ist Ernährungswissenschaftler und Bestsellerautor. Für die IKK classic klärt er im YouTube-Format "Gutes Essen, schlechtes Essen" unterhaltsam und informativ über das Thema Ernährung auf. Mehr zu "Gutes Essen, schlechtes Essen"

Hat Ihnen das gemeinsame Buchprojekt geholfen, mit der schwierigen Situation umzugehen?

Achim Sam: Unser Buch wird immer als Akutbuch beschrieben. Aber eigentlich ist es ein umfassendes Präventionsbuch. Denn wenn man es gelesen hat und in ein Arztgespräch geht, weiß man besser, wie man mit so einer Diagnose umgeht und wie die Aussagen zu bewerten sind. Deshalb ist es wie ein Präventionsbuch zu betrachten. Fast jeder Zweite wird in seinem Leben mit einer Krebsdiagnose konfrontiert. Deshalb ist es ratsam, sich vorher mit dem Thema Krebs zu beschäftigen. Es kann jeden zu jeder Zeit treffen.

Verena Sam: Am Anfang hatte ich ein wenig Bedenken, weil es doch ein großer Schritt ist, mit so einer Erkrankung an die Öffentlichkeit zu gehen. Plötzlich weiß es wirklich jeder. Aber mir hat es sehr geholfen, vieles noch mal aufzuarbeiten. Und auch die Erfahrungen, die wir gemacht haben, mit den ganzen Unkenrufen und den vielen gut gemeinten Ratschlägen, aber auch der Umgang mit Arztgesprächen – das muss man einfach weitergeben.

Wir waren ja noch in einer guten Situation: Achim ist Ernährungswissenschaftler und ich Fitness-Expertin – da hat man schon ein bisschen gesammeltes Wissen. Jemand, der alleine in so einer Situation steckt, braucht eine Hilfestellung – und nachdem wir uns durch so viele Studien gewühlt hatten, war mir klar: Das müssen wir in die Welt tragen. Ich habe viele Nachrichten von Menschen bekommen, die gesagt haben: Danke für das Buch, das hat mir geholfen und Mut gemacht. Genau dafür haben wir das Buch gemacht – und es war auch schön, ein gemeinsames Projekt zu haben.

 

Verena und Achim Sam, vielen Dank für das Gespräch.

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