Mann und Frau sitzen beide krank im Bett.

Gendermedizin: Warum Frauen und Männer anders krank sind

Die Medizin behandelte Frauen und Männer lange gleich, obwohl sie bei ein und der selben Krankheit unterschiedliche Symptome haben können und viele Medikamente anders wirken. Doch das ändert sich mit der Gendermedizin, die insbesondere die biologischen Unterschiede der Geschlechter berücksichtigt.

Was ist Gendermedizin?

Gendermedizin ist eine noch sehr junge Disziplin. Hierbei geht es um die Erforschung des Einflusses des Geschlechts auf Erkrankungen und deren Behandlung: Sowohl das biologische als auch das soziale Geschlecht haben Einfluss darauf, wie Krankheiten diagnostiziert werden, wie das Krankheitsbild auftritt oder wie die Behandlung aussehen kann. 

Erst seit den 1990ern gibt es die Diskussion, den Startschuss setzte die amerikanische Kardiologin Marianne Legato mit ihrem Buch "The Female Heart: The Truth about Women and Heart Disease" (Das weibliche Herz: Die Wahrheit über Frauen und Herzerkrankungen). Es erschien im Jahr 1991. Sie hat entdeckt, dass Frauen andere Symptome bei einem Herzinfarkt zeigen als Männer. 

Neben der Diagnose, die geschlechtsspezifische Unterschiede oft nicht berücksichtigt, kann es auch bei der Behandlung zu Schwierigkeiten kommen: Die meisten Medikamente und Krankheiten wurden in der Vergangenheit an Männern erforscht, owohl sich Wirkung und Nebenwirkungen der Arzneimittel bei Frauen teilweise deutlich unterscheiden – oft zu ihrem Nachteil.

Trotzdem kommt das Thema erst langsam in der Medizin und in der Ausbildung der medizinischen Berufe an. Studieren kann man Gendermedizin als Mastermodul in Österreich, zum Beispiel an der Medizinischen Universität in Wien. In Deutschland betreibt die Charité ein Institut für Geschlechterforschung in der Medizin.

Beispiele für Gendermedizin

Gendermedizin ist bei Erkrankungen wichtig, bei denen es geschlechtsspezifische Unterschiede in Prävention, Diagnose, Behandlung und Forschung gibt. Einige Beispiele für solche Erkrankungen sind:

  • Herz-Kreislauf-Erkrankungen

    Frauen und Männer können unterschiedliche Symptome eines Herzinfarkts haben und es gibt geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Häufigkeit und dem Verlauf von Herzerkrankungen.

  • Autoimmunerkrankungen

    Viele Autoimmunerkrankungen wie rheumatoide Arthritis und Lupus treten bei Frauen häufiger auf. Auch hier können die Symptome und der Verlauf je nach Geschlecht unterschiedlich sein.

  • Psychische Gesundheit

    Bei psychiatrischen Erkrankungen wie Depressionen und Angststörungen gibt es Unterschiede zwischen Männern und Frauen hinsichtlich der Inzidenz, des Schweregrads und der Versorgung.

  • Osteoporose

    Frauen haben nach den Wechseljahren ein höheres Risiko für Osteoporose. Die Prävention und Behandlung müssen daher geschlechtsspezifische Aspekte berücksichtigen.

  • Krebs

    Einige Krebsarten treten bei Männern und Frauen unterschiedlich häufig auf. Auch die Wirkung von Krebstherapien kann geschlechtsspezifisch sein.

  • Medikamentenverträglichkeit

    Die Reaktion auf bestimmte Medikamente kann geschlechtsspezifisch sein und Frauen können unterschiedliche Nebenwirkungen oder Dosierungsanforderungen haben.

"Frauen sind anders krank. Männer auch."

Als einer der Pioniere der Gendermedizin gilt Prof. Dr. Marek Glezerman. Er beschäftigt sich bereits seit über einem Jahrzehnt mit dem Thema. Sein Buch "Frauen sind anders krank. Männer auch." ist im März 2018 erschienen und soll dem Publikum geschlechtsspezifische Medizin auf populärwissenschaftliche Weise nahebringen, um die Graswurzelbewegung zu stärken, wie er im Interview erklärt – also die breite Öffentlichkeit für das Thema sensibilisieren, um den Wandel zu beschleunigen.

Im Interview erklärt er uns, warum Gendermedizin so wichtig ist, welche Schwierigkeiten auftreten können und warum auch Männer davon profitieren.

Prof. Dr. Marek Glezerman

Glezerman ist Professor emeritus für Geburtsheilkunde und Gynäkologie und außerdem Fachbereichsleiter für Gendermedizin an der Universität Tel Aviv, Direktor des Forschungszentrums für Geschlechtsspezifische Medizin am Rabin Medical Center und Gründungspräsident der Israelischen Gesellschaft für Gender und Geschlechtsbewusste Medizin. Bis 2017 war er Präsident der International Society for Gender Medicine.

Prof. Dr. Marek Glezerman, Autor des Buches "Frauen sind anders krank. Männer auch."

Gendermedizin ist eine recht junge Disziplin. Warum ist es so wichtig, dass sich die Medizin damit beschäftigt?

Sowohl das biologische Geschlecht als auch das Gender, also die Art und Weise, wie eine Gesellschaft oder das Individuum die Geschlechterrolle definiert, wirken wesentlich auf Krankheiten und deren Genesung ein. Die Einsicht, dass Frauen und Männer medizinisch anders behandelt werden sollten, ist eine Revolution im medizinischen Denken.

Im Medizinstudium ist Gendermedizin nicht verpflichtend angekommen. Wie schätzen Sie den aktuellen Stand des Diskurses ein?

Es bewegt sich momentan sehr viel, das Wissen in diesem Bereich wächst gerade exponentiell an. Aufsätze werden veröffentlicht und Lehrbücher entstehen. Sowohl Top-Down als auch als Graswurzelbewegung findet Gendermedizin Eingang in die moderne Medizin. Die EU macht sich für das Thema stark, es gibt viele Kongresse, Gesundheitsämter beschäftigen sich damit und auch Patientinnen und Patienten sind zunehmend sensibilisiert dafür.

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Inwiefern geht Gendermedizin über das biologische Geschlecht hinaus?

Vorweg: Zwischen Sex – also dem biologischen Geschlecht – und Gender – dem sozial konstruierten Geschlecht – besteht nicht unbedingt eine binäre Trennung. Es gibt aber einige Krankheiten, die Männer oder Frauen häufiger treffen, ohne dass es dafür biologische Gründe gibt. Malaria etwa tötet noch immer hunderttausende Menschen pro Jahr, Millionen infizieren sich. In Gebieten, in denen Frauen aus kulturellen oder religiösen Gründen von Kopf bis Fuß bedeckt sind, erkranken Männer öfter als Frauen. Denn die Mücke, die Malaria überträgt, braucht nackte Haut, um stechen und übertragen zu können. In geographischen Gebieten, in denen die Bekleidungskonventionen nicht so klar getrennt sind, gibt es auch diese Unterschiede bei der Malaria-Erkrankung nicht. Das hat also klar mit dem Verhalten und den Geschlechterrollen zu tun.

Die Nebenwirkungen von Medikamenten sind bei Frauen um 30 Prozent höher.
Prof. Dr. Marek Glezerman

Nicht nur bei Krankheiten gibt es Unterschiede zwischen Männern und Frauen, wie sieht es in der Behandlung aus?

Die meisten Krankheiten und Medikamente, bestimmt 70 bis 80 Prozent, werden an Männern untersucht. Sogar die Versuchstiere sind meist männlich. Denn mit Männern zu forschen ist wesentlich einfacher als mit Frauen. Sie haben keine Periode und keine so großen hormonellen Schwankungen. Trotzdem werden aus dieser Forschung Behandlungsempfehlungen für Männer und Frauen abgeleitet. Mit dem Ergebnis, das beispielsweise die Nebenwirkungen von Medikamenten bei Frauen um 30 Prozent höher sind.

Aber ist das nicht absurd? Die hormonellen Schwankungen bestehen ja trotzdem und können die Wirkung der Medikamente beeinflussen.

Ja, das ist es. Ich glaube auch, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis es den ersten Prozess gibt, bei dem eine Frau dagegen klagt, mit der falschen Medikation behandelt worden zu sein. Die hormonellen Schwankungen sind nur ein Aspekt. Die Körpergröße und der genetische Aufbau sind bei Männern und Frauen unterschiedlich.

Stellen Sie sich zwei Olympioniken vor, ein Mann und eine Frau, beide 75 Kilogramm schwer, durchtrainiert, kein Gramm Fett zu sehen. Die Frau wird trotzdem einen doppelt so großen Fettanteil haben wie der Mann. Wenn sie zwölf Kilogramm Fett im Körper hat, hat der Mann sechs Kilo. Wie ein Medikament aufgenommen, metabolisiert und ausgeschieden wird, hat aber viel mit dem Anteil von Fett, Muskelmasse und Wasser im Körper zu tun. Allein darum wirken Medikamente anders.

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Was heißt das konkret?

In der Onkologie beispielsweise, also der Behandlung von Krebs, führen die stärkeren Nebenwirkungen der Medikamente bei Frauen leider dazu, dass sie häufiger aus der Behandlung aussteigen. Männer scheiden die Medikamente schneller aus als Frauen. Für Frauen dagegen sind die Nebenwirkungen in vielen Fällen so unaushaltbar, dass sie aufhören, die Medikamente zu nehmen.

Ein anderes Beispiel: Bei einem bestimmten Schlafmittel in den USA, welches seit über 20 Jahren auf dem Markt ist, hat sich gezeigt, dass bei Frauen am Morgen noch erhebliche Mengen im Blutspiegel nachzuweisen waren. Das führte sogar zu einer Reihe von Autounfällen. Die FDA, die Food and Drug Administration in den USA, empfahl daraufhin, Frauen nur noch die halbe Dosis zu verabreichen.

Wir müssen raus aus dem One-size-fits-all-Schema.
Prof. Dr. Marek Glezerman

Profitieren auch Männer von geschlechtersensibler Medizin?

Bei der Depression gehen die PHQ-9 Fragebögen, mit denen die Anzeichen von Depressionen ermittelt werden, von Symptomen aus, die typisch für Frauen sind: Traurigkeit, Niedergeschlagenheit, Antriebslosigkeit. Unter diesen Vorzeichen werden Depressionen doppelt so oft bei Frauen diagnostiziert.

Bei Männern dagegen äußern sich Depressionen häufig durch Aggressionen, Alkohol- oder Drogensucht. Hinzu kommt, das Männer sich schwerer tun, über die eigene emotionale Innenwelt zu reden. Das hat viel mit der Sozialisierung von Jungen und Mädchen zu tun: Mädchen dürfen weinen, Emotionen zeigen, Jungs dagegen sollen kleine Männer sein und die Zähne zusammenbeißen.

Wenn man aber die Fragebögen ändert und die typischen Symptome der Männer mit aufnimmt, entdeckt man bei Männern ebenso viele Depressionen wie bei Frauen. Wir müssen raus aus dem One-size-fits-all-Schema. Vor 150 Jahren hatten wir noch keine Pädiatrie. Kinder wurden als kleine Erwachsene angesehen. Heute haben wir eine eigene Medizin für Kinder. Dazu wird es auch bei der Medizin für Männer und Frauen kommen.

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