Spinale Muskelatrophie - was verbirgt sich hinter dieser Krankheit?

Redaktion
IKK classic

Die Spinale Muskelatrophie, ein vererbter Muskelschwund, hat in den letzten Jahren viel Aufmerksamkeit erfahren. Wir haben einen Experten gefragt, was hinter der seltenen, bis vor kurzem nicht behandelbaren Krankheit steckt und wie moderne Therapien aussehen.

Die spinale Muskelatrophie, kurz SMA genannt, ist eine seltene fortschreitende neuromuskuläre Erkrankung, die etwa eines von 10.000 Neugeborenen betrifft.

Bei gesunden Menschen ziehen sich Muskelfasern durch die Aktivierung von Nervenfasern zusammen. Dadurch wird der Muskel je nach der Zahl der beteiligten Muskelfasern kürzer, er spannt sich an und eine Bewegung erfolgt. Muskelfasern, die von erkrankten Nervenfasern nicht richtig angesprochen werden, ziehen sich nicht zusammen. Die Folge sind Schwund (Atrophie) und Schwächung der Muskulatur. Das Wort „Spinal“ bedeutet, dass eine Beschädigung der Nervenzellen im Rückenmark die Ursache für die Erkrankung ist.

Die SMA ist die häufigste erbliche Erkrankung mit Todesfolge im Säuglingsalter und wird überwiegend bereits im frühen Kindesalter diagnostiziert.

Was sind die Ursachen, Symptome und Warnzeichen?

Ein Defekt auf dem sogenannten SMN-1-Gen führt dazu, dass bestimmte Proteine, sogenannte "Survival of Motor"-Neuronen, nicht gebildet werden, die für die Muskelkraft verantwortlich sind. Deshalb sind bei SMA-Erkrankten auch sämtliche Muskeln des Körpers betroffen. Muskeln, die dem Rumpf am nächsten sind, also Schulter-, Hüft- und Rückenmuskulatur sind in der Regel am schwersten betroffen, die Schwäche in den Beinen ist zudem meist größer als in den Armen. Auch Kau- und Schluckmuskulatur können betroffen sein. Die Beteiligung der Atemmuskulatur, die für die Aufnahme von Sauerstoff und das Abhusten zuständig ist, kann zu einer erhöhten Anfälligkeit für Lungenentzündungen und zu anderen Problemen mit der Lunge führen. Sinneswahrnehmungen, das heißt Sehen, Hören, Riechen, Schmecken sowie die Hautsensibilität sind nicht betroffen, ebenso wenig wie die intellektuellen Fähigkeiten der Erkrankten.

Laut Joachim Sproß, Bundesgeschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke, ist SMA verglichen mit anderen seltenen Erkrankungen „relativ häufig“, im allgemeinen Vergleich jedoch ausgesprochen selten. Statistisch gesehen kommt in Deutschland etwa ein Fall auf 6.000 bis 10.000 Geburten bei der infantilen Form (Erkrankung im Kindesalter). Beim juvenilen Typ der SMA (Erkrankung im jugendlichen Alter) verzeichnet man ein Auftreten von einem Fall auf 75.000 Geburten.

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Welche Formen der SMA gibt es?

Man teilt die Spinale Muskelatrophie in vier Typen ein, die jedoch nur eine grobe Richtlinie darstellen, da die Übergänge zwischen den Typen fließend sind.

  • Die ersten Anzeichen der sogenannten akuten infantilen SMA (Typ 1) - auch Werdnig-Hoffmansche Erkrankung genannt - treten bei Babys noch vor dem sechsten Lebensmonat auf. In manchen Fällen bemerkt die Mutter bereits in den letzten Schwangerschaftsmonaten eine Abnahme der Kindesbewegungen im Mutterleib. Die Krankheit zeigt sich in dieser schweren Form durch eine ausgeprägte Bewegungsunfähigkeit. Auch das Atmen und Schlucken fällt den Babys oft sehr schwer. Unbehandelt erreichen Babys mit dieser SMA nie wichtige motorische Meilensteine der kindlichen Entwicklung, wie etwa die Fähigkeit, ohne Hilfe zu sitzen, und sterben oft vor Erreichen des zweiten Lebensjahres an Lungenversagen.

  • Von SMA Typ 2 – chronisch infantile oder intermediäre SMA genannt - spricht man, wenn die Kinder (in der Regel im Alter von etwa sieben bis 18 Monaten den motorischen Meilenstein „Sitzen ohne Hilfsmittel“ erreichen. Im Falle einer Typ-2-Erkrankung ist die motorische Entwicklung dennoch stark beeinträchtigt und verzögert: Die Kinder können zwar ohne Hilfe sitzen, brauchen jedoch oft Unterstützung, um in die Sitzposition zu kommen. Sie werden nie ohne Hilfsmittel stehen können oder laufen lernen. Bei den Kindern mit dieser Erkrankung entwickelt sich während des Wachstums nahezu immer eine Skoliose (Verkrümmung der Wirbelsäule). Auch bei dieser Form der SMA kann die Lebenserwartung im Vergleich zu gesunden Menschen deutlich verkürzt sein.

  • Menschen mit SMA Typ 3 (Kugelberg-Welander-Form) sind zumindest zeitweise in ihrem Leben gehfähig. Mit Fortschreiten der SMA können sie diese Fähigkeit jedoch wieder verlieren. Die Muskelschwäche ist bei SMA Typ 3 in den Beinen häufig ausgeprägter als in den Armen. SMA Typ 3 tritt in der Regel nach dem 18. Lebensmonat auf. In sehr seltenen Fällen können sich Symptome aber auch erst im Erwachsenenalter zeigen, hierbei spricht man vom SMA Typ 4. Auch unbehandelt haben Menschen mit SMA Typ 3 im Unterschied zu SMA Typ 1 und 2 eine weitestgehend normale Lebenserwartung.

  • Bei der vierten Form der SMA zeigen sich die ersten Symptome üblicherweise erst nach dem 35. Lebensjahr. Die Betroffenen haben in der Regel eine normale Lebenserwartung. Typ 4 ist im Vergleich zu den anderen Typen ausgesprochen selten.

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Das sind die Möglichkeiten der Früherkennung

Seit Oktober 2021 ist die Untersuchung auf SMA Teil des regulären Neugeborenen-Screenings. Ein „riesiger medizinischer Erfolg“, wie Joachim Sproß erklärt, dessen Organisation sich lange für die Aufnahme der Diagnostik eingesetzt hat. Dabei werden Babys in den ersten drei Tagen nach der Geburt mit Zustimmung der Eltern in der Regel aus der Ferse einige Tropfen Blut entnommen, die auf verschiedenste Krankheiten hin untersucht werden. Das Neugeborenen-Screening zählt zum Leistungsumfang Ihrer IKK classic.

Diese Therapiemöglichkeiten gibt es

Bis vor wenigen Jahren war eine ursächliche Behandlung der SMA medizinisch nicht möglich. Daher konzentrierte sich die Therapie darauf, Beschwerden zu lindern und Betroffene bestmöglich in Form von Physiotherapie, Logopädie, Atemtherapieeinheiten oder unter Umständen auch Operationen zu unterstützen.

„Es geht um Beweglichkeit und Alltagsbewegungen, es ist eine sehr spezielle Physiotherapie, die Belastung darf nicht zu hoch sein. Gerade die Stimm- und Schlucktherapie ist enorm wichtig, auch das Sprachvermögen leidet unter Umständen“, erklärt Joachim Sproß.

Oft kommt es bei neuromuskulären Störungen auch zu psychischen Beeinträchtigungen der Betroffenen wie etwa einer Depression. Deshalb ist auch hier eine begleitende Therapie oftmals hilfreich.

Medikamentöse Therapien

Erst seit wenigen Jahren sind medikamentöse Therapien zur Behandlung von Spinaler Muskelatrophie verfügbar. Das erste entsprechende Medikament mit dem Namen Spinraza kam 2017 auf den Markt. Es wirkt, indem es den Körper dabei unterstützt, mehr von dem SMN-Protein zu bilden, an dem bei Menschen mit Spinaler Muskelatrophie ein Mangel besteht. Somit reduziert sich der Verlust von Nervenzellen und die Muskelstärke kann verbessert werden. Die Gabe des Medikaments erfolgt über eine Injektion in den unteren Rücken (Lumbalpunktion) und muss aller vier Monate wiederholt werden. „Diese Therapie kann sowohl Säuglingen als auch Erwachsenen verabreicht werden“, so Joachim Sproß.

Die zweite Option wird als Einmalgabe intravenös verabreicht. Das Medikament Zolgensma® wurde zur Behandlung der schwersten Form der angeborenen Muskelatrophie entwickelt. Bei dieser bisher einzigen ursächlichen Therapie wird über eine Infusion eine funktionsfähige Kopie des fehlerhaften Gens in die Nervenzelle eingebracht. Ziel ist, dass das SMN-Protein wieder selbstständig vom Körper produziert werden kann. Zolgensma® wird im Gegensatz zu den anderen zugelassenen Medikamenten nur einmalig angewendet. Die Verabreichung erfolgt von Spezialisten in einer entsprechenden Klinik. Mit einem Preis von mehr als zwei Millionen Euro gilt es als das teuerste Medikament der Welt.

Zolgensma erfuhr eine erhöhte Aufmerksamkeit, als ein Pharmakonzern im Jahr 2020 ankündigte, 100 Dosen des Mittels zu verlosen. „Das war der Situation geschuldet, dass in der Regel Therapien bei der amerikanischen Zulassungsbehörde FDA schneller zugelassen werden als beim europäischen Pendant, der EMA“, erklärt Joachim Sproß.

Die dritte Medikation wird täglich oral verabreicht, für Kinder ab dem 2. Lebensmonat bis ins Erwachsenenalter. Wie auch Spinraza® führt Evrysdi® über genetische Mechanismen zur Erhöhung der Menge von funktionellem SMN-Protein und somit zur Reduktion der Symptome und Auswirkungen des Mangels.

„Alle Therapien sind hochpreisig, sie unterscheiden sich von der Gabe des Wirkstoffs und vom Wirkmechanismus“, erklärt Joachim Sproß. „Insgesamt haben wir viel zu wenige Patienten, um schnell verlässliche Studien anzufertigen, welches Mittel am besten wirkt“, so der Experte weiter. Nichtsdestotrotz handele es sich bei den neuen Medikamenten um einen sensationellen Erfolg. Schließlich würden viele Kinder ohne Therapie die ersten 24 Lebensmonate nicht überleben.

Wie hilft die IKK classic?

Trotz aller Herausforderungen unterstützt die IKK classic ihre Mitglieder und finanziert die Diagnostik sowie die Therapie. Im Einzelfall wird geprüft, welche Kosten übernommen werden können.

Nutzen Sie unsere vielfältigen Kontaktmöglichkeiten!

Hier finden Betroffene Unterstützung

Die Deutsche Gesellschaft für Muskelkranke unterstützt bundesweit. Sie klärt über das tägliche Leben mit SMA auf und sorgt für Selbstbestimmung und Unabhängigkeit der Betroffenen und ihrer Familien.

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Veröffentlicht am 22.06.2022

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