Inklusion meistern: Menschen mit Behinderung im Handwerk

Redaktion
IKK classic

Der Fachkräftemangel ist allgegenwärtig, auch und gerade im Handwerk. Dabei werden Menschen mit Behinderung noch zu selten berücksichtigt. Und das, obwohl diese nicht zwangsläufig arbeitsunfähig sind.

Trotz der teilweise körperlich anspruchsvollen Aufgaben bietet das Handwerk viele Bereiche für die Inklusion von körperlich oder geistig beeinträchtigten Menschen. Und dennoch werden Menschen mit Behinderung nach wie vor auf dem Arbeitsmarkt oftmals nicht berücksichtigt. Dies zeigt vor allem der Blick auf das "Inklusionsbarometer Arbeit 2023" der Aktion Mensch, das die Fortschritte bei der Inklusion von Menschen mit Behinderung auf dem deutschen Arbeitsmarkt misst. Hier ist zu erkennen, dass sich zwar die Anzahl der Arbeitslosen mit Behinderung im Jahr 2022 um rund fünf Prozent auf 163.507 reduziert hat. Betrachtet man jedoch die Entwicklung im Jahr 2023, so zeigt sich, dass der Wert seit April wieder höher liegt als Ende 2022.

Doch woran liegt das? Ein möglicher Grund: Viele Unternehmerinnen und Unternehmer beachten bei der Inklusionsthematik noch nicht, dass Behinderungen vielfältig sind. Nicht jede Beeinträchtigung eines Menschen muss dazu führen, dass er oder sie nicht mehr zur Bewältigung von Arbeitsaufträgen in der Lage ist. Im Gegenteil: Bei vielen Menschen mit Behinderung ist die Leistungsfähigkeit viel größer, als man vermuten würde. Oft sehnen sie sich nach einem Arbeitsplatz, der ihren Interessen und Neigungen entspricht. Davon können Handwerksbetriebe profitieren – wirtschaftlich und sozial.

Inklusion im Handwerk

In Deutschland leben rund zehn Millionen behinderte Menschen, darunter sind knapp 7,8 Millionen Schwerbehinderte. Wann ein Mensch als behindert gilt, ist im Neunten Sozialgesetzbuch definiert. Dort heißt es: "Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist."

Diese sehr weit gefasste Definition zeigt: Behinderung ist nicht gleich Behinderung. Und mehr noch: Nicht jede Behinderung bedeutet zwangsläufig eine Funktionseinschränkung in Bezug auf die Arbeitsfähigkeit. Menschen mit Behinderung haben häufig eine hohe Motivation, sich in den Arbeitsmarkt zu integrieren.

Noch immer denkt man bei Menschen mit Behinderung zunächst an körperlich sichtbare Einschränkungen. Doch auch durch von außen nicht direkt wahrnehmbare Behinderungen, wie einem chronischen Leiden oder auch seelischen oder psychischen Erkrankungen, kann eine Schwerbehinderung vorliegen. Anerkannt werden hier schwerwiegende Erkrankungen, wie Asthma, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Schlaganfall, Rheuma, Diabetes, Multiple Sklerose, schmerzhafte Rückenleiden und Krebserkrankungen. Bei psychischen Einschränkungen können die Auswirkungen und Störungen, die eine psychische Erkrankung mit sich bringt, von Person zu Person sehr unterschiedlich sein.

Deshalb gilt, dass Menschen mit Behinderungen immer individuell betrachtet werden müssen und keinesfalls grundsätzlich als arbeitsunfähig eingestuft werden sollten.

Soziale und berufliche Teilhabe

"Häufig besteht das Vorurteil: Behinderung gleich Leistungsminderung", sagt Caroline Rigo, Referatsleiterin Abteilung Arbeitsmarkt, Tarifpolitik und Arbeitsrecht des Zentralverbands des Deutschen Handwerks (ZDH). Dabei, so Rigo, könnten Arbeitnehmende mit Behinderung, die entsprechend ihrer individuellen Fähigkeiten eingesetzt würden, für ihre Arbeitgeber und den gesamten Betrieb nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht ein Gewinn sein.

"Häufig besteht das Vorurteil: Behinderung gleich Leistungsminderung."

Caroline Rigo, Referatsleiterin ZDH

Inklusion heißt der Prozess, von dem die ZDH-Expertin Rigo spricht, und der weit über die Integration von Menschen mit Behinderung hinausgeht. Bei der Inklusion geht es nicht nur darum, behinderte Menschen einzubinden. Die Grundidee von Inklusion ist laut der UN-Behindertenrechtskonvention, dass alle nötigen Voraussetzungen geschaffen werden, um ein gemeinsames Leben aller Menschen mit und ohne Behinderung zu gewährleisten. In der Folge hat sich nicht der Mensch mit Behinderung anzupassen. Das gesellschaftliche Leben muss angepasst werden, damit alle in gleichem Maße daran teilhaben können: privat, sozial und eben auch beruflich.

Vorurteile und Diskriminierung machen krank

Menschen mit Behinderungen erleben oft ungewollte Aufmerksamkeit. Auf der Straße werden sie angestarrt oder gar bemitleidet. Doch auch mit Behinderung sind Menschen zu Leistungen fähig, die für viele nicht vorstellbar sind.

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Es fehlt an Expertise und Aufklärung

Oftmals mangelt es im Bereich Inklusion seitens der Unternehmen nicht an der grundsätzlichen Einstellung, sondern es fehlt an vielen Stellen Erfahrung. Gerade kleineren und mittleren Unternehmen fehlt der Zugang zu ausreichend Informationen sowie Expertise, um Inklusion im eigenen Betrieb tatkräftig anzugehen und umzusetzen. Doch nicht nur Beratungs- und Informationsangebote sind vielen Unternehmerinnen und Unternehmern noch unbekannt, auch kennen einige Betriebe die bestehenden Förder- und Unterstützungsleistungen, die ihnen zur Verfügung stehen, nicht. Eine weitere Hürde für Unternehmen, Menschen mit Behinderung im eigenen Betrieb anzustellen, sind noch immer herrschende Vorurteile.

Häufig wird Behinderung mit Arbeitsunfähigkeit gleichgesetzt, Potenziale werden dadurch außer Acht gelassen. "Das sind oftmals festgesetzte Vorurteile, dass Menschen mit Behinderung nicht leistungsfähig und häufiger krank seien", erläutert Dagmar Greskamp, Fachexpertin für Inklusion und Arbeit bei der Aktion Mensch. Sie hat selbst eine Spastik und eine Gehbehinderung und kennt sich daher mit den Vorurteilen bestens aus, denen behinderte Menschen auf dem Arbeitsmarkt begegnen. "Beides ist nicht der Fall: Im letzten Jahr hatten wir als Teil des Inklusionsbarometers auch eine Umfrage gemacht, in der 80 Prozent der Unternehmen sagten, dass sie keine Leistungsunterschiede zwischen Menschen mit und ohne Behinderung sehen", so die Expertin. "Nur weil jemand wegen kognitiver Einschränkung nicht gut in Mathe ist, heißt das nicht, dass er ein schlechter Schreiner wird", sagt Dagmar Greskamp.

"Nur weil jemand wegen kognitiver Einschränkung nicht gut in Mathe ist, heißt das nicht, dass er ein schlechter Schreiner wird."

Dagmar Greskamp, Inklusionsexpertin

Mann mit Prothese in Lager © momcilog

Meistens fehlt vor allem eines: die Aufklärung. So hat der ZDH gemeinsam mit der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) und dem Deutschen Industrie und Handwerkskammertag (DIHK) die Initiative "Inklusion gelingt" ins Leben gerufen. Die zugehörige Internetplattform inklusion-gelingt.de wurde im Rahmen des Nationalen Aktionsplans der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention ins Leben gerufen. "Oft sind es fehlende Informationen, die Betriebe davon abhalten, Menschen mit Behinderung zu beschäftigten. Es gibt inzwischen beeindruckende Beispiele, bei denen die Inklusion von Menschen mit Behinderung gelingt", so die ZDH-Expertin Rigo.

Stellen werden trotz Vorgabe nicht entsprechend besetzt

Grundsätzlich gilt, dass alle privaten und öffentlichen Arbeitgeber mit mindestens 20 Arbeitsplätzen dazu verpflichtet sind, wenigstens fünf Prozent der Stellen mit schwerbehinderten Menschen zu besetzen (§ 154 SGB IX). Für jeden nicht mit einem schwerbehinderten Menschen besetzten Pflichtarbeitsplatz ist eine Ausgleichsabgabe zu zahlen, deren Höhe sich nach der Zahl der besetzten Pflichtarbeitsplätze richtet. Eine solche Ausgleichsabgabe soll Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber zur vermehrten Einstellung schwerbehinderter Menschen veranlassen. Aus den Mitteln der Ausgleichsabgabe werden die Leistungen der Integrationsämter und der Agenturen für Arbeit für die Beschäftigung schwerbehinderter Menschen finanziert.

Trotz dieser Verpflichtung: Noch immer zahlen viele Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber die Pflichtabgabe, anstatt diese Stellen durch Menschen mit Schwerbehinderung zu besetzen.

Unterstützung für Betriebe, die behinderte Menschen beschäftigen

Um das Handwerk für Beschäftigte mit Behinderung zu öffnen, unterstützt der Staat Arbeitgeber in vielfältiger Weise: Ab einem Grad von 50 Prozent Schwerbehinderung greifen Fördermaßnahmen.

Arbeiten auf Probe

Diese Möglichkeit ist für Handwerksbetriebe, die zunächst einmal testen wollen, ob dieser Weg für sie der richtige ist, gut geeignet. Denn bietet ein Betrieb einem behinderten Menschen einen Probe-Arbeitsvertrag an, werden die Personalkosten drei Monate lang komplett übernommen. Dadurch wird zum einen die Chance des Arbeitnehmers erhöht, in ein festes Arbeitsverhältnis zu gelangen, zum anderen werden die Bedenken des Arbeitgebers häufig komplett zerstreut.
Ein Probe-Arbeitsverhältnis mit einem schwerbehinderten Menschen muss der Arbeitgeber dem Integrationsamt innerhalb von vier Tagen melden. Nur so können in der wichtigen Startphase einer Beschäftigung alle Möglichkeiten der begleitenden Hilfen im Arbeitsleben ausgeschöpft werden. Die gleiche Frist gilt für die Beendigung der Probe-Anstellung.

Eingliederungszuschuss

Stellt ein Handwerksbetrieb einen behinderten und arbeitssuchend gemeldeten Menschen ein, zahlt die Agentur für Arbeit bis zu 50 Prozent des Arbeitsentgelts als Eingliederungszuschuss. Der Zeitraum beträgt mindestens 12 Monate. In begründeten Fällen unterstützt die Arbeitsagentur Betriebe auch 24 Monate. Der Zuschuss kann bei älteren Arbeitnehmern (über 55 Jahre) bis zu 60 Monate gewährt werden. Bei besonders betroffenen schwerbehinderten Menschen, die das 55. Lebensjahr vollendet haben, kann der Zuschuss sogar bis zu 96 Monate geleistet werden.

Behindertengerechte Ausstattung

Der Arbeitsplatz eines behinderten Menschen erfordert eine Ausstattung mit den notwendigen technischen Arbeitshilfen, durch die eine dauerhafte behinderungsgerechte Beschäftigung ermöglicht oder erleichtert wird. Dafür können Arbeitgeber vom Staat einen Zuschuss oder ein günstiges Darlehen erhalten. So benötigt ein sehbehinderter Mensch beispielsweise einen großen Monitor bzw. eine große Computer-Tastatur. Oder ein gehörloser Mensch ist auf ein spezielles Bildtelefon oder eine Lichtsignal-Anlage an einer Maschine, die er bedient, angewiesen. 

Unterstützung für Gründer und Azubis

Junge Unternehmen, die nicht länger als zwei Jahre am Markt sind und nicht mehr als fünf Beschäftigte haben, können für maximal zwei schwerbehinderte Mitarbeiter bis zu 50 Prozent des Arbeitsentgelts bekommen, und dies für maximal 12 Monate. Auch wer einen schwerbehinderten Menschen ausbildet, kann einen Zuschuss zur Ausbildungsvergütung erhalten, und zwar in Höhe von bis zu 80 Prozent, einschließlich des Arbeitgeber-Anteils für Sozialversicherungen. Übernimmt der Ausbildungsbetrieb nach Abschluss der Ausbildung den Mitarbeiter mit Behinderung, steht ihm ein Jahr lang 70 Prozent des Arbeitsentgelts als Zuschuss zu. In allen Fällen gilt: Anlaufstellen sind die Integrationsämter bzw. die örtlichen Arbeitsagenturen.

Unterstützung von Inklusionsberatern

In vielen Handwerkskammern gibt es zudem sogenannte Inklusionsberater, die Handwerksbetriebe beim Thema Inklusion unterstützen: etwa dabei, Fördermittel zu beantragen. Denn dies ist häufig noch ein aufwendiger und langwieriger Prozess.

EAA

Die Einheitlichen Ansprechstellen für Arbeitgeber, aufgelistet von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen (BIH) e.V., machen es Unternehmen leichter, die richtige Informationsstelle im individuellen Betriebsgebiet zu finden.

Podiumsdiskussion auf der ZUKUNFT HANDWERK 2024

Auch in diesem Jahr ist die IKK classic wieder Teil des großen Branchentreffs des Handwerks. Bei der ZUKUNFT HANDWERK, die vom 28. Februar bis 1. März 2024 in München stattfindet, präsentiert die IKK classic als Krankenkasse des Handwerks eine Podiumsdiskussion zum Thema „Inklusion im Handwerk“.

Frank Hippler, Vorstandsvorsitzender der IKK classic, liefert aktuelle Zahlen zu Arbeit und Gesundheit, die zeigen, wie viel Potenzial das Handwerk im Bereich Inklusion wirklich hat. Hippler diskutiert live mit Expertinnen und Experten wie Sabine Gnielka, Inklusionsberaterin der Handwerkskammer zu Köln, Jörg Dittrich, Präsident des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks (ZDH), Gerd Jahnsmüller, Bäckermeister, Inhaber und Geschäftsführer der Goldbrötchen-Bäckerei und Sven Lodewick, Auszubildender der Orthopädietechnikmechanik über das ICP Bildungswerk München, darüber, wie Betriebe Menschen mit einer Behinderung echte Chancen geben können, wie Inklusion gelingen kann, welche Vorteile sich dem Handwerk dadurch auftun und welche Hürden abzubauen sind.

Mehr Informationen zur ZH finden Sie hier

Das Inklusionsbarometer

Sie wollen genaue Zahlen und Fakten aus dem Bereich Inklusion in der Arbeitswelt erhalten? Den aktuellen Stand mit genauen Infos können Sie dem aktuellen Inklusionsbarometer der Aktion Mensch entnehmen.

Zum Inkusionsbarometer
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Veröffentlicht am 25.01.2024

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