Inklusions-Expertin Dagmar Greskamp im Interview: Potenziale von Inklusion

Redaktion
IKK classic

Dagmar Greskamp, Fachexpertin für Inklusion und Arbeit bei der Aktion Mensch, begleitet seit neun Jahren das „Inklusionsbarometer Arbeit“. Es misst Fortschritte oder Rückschritte bei der Inklusion in der Arbeitswelt. Im Interview erläutert sie, warum sich Unternehmerinnen und Unternehmer damit selbst behindern, statt die Potenziale der Inklusion zu ihrem Vorteil zu nutzen.

Die Expertin

Dagmar Greskamp, Fachexpertin für Inklusion und Arbeit bei der Aktion Mensch, begleitet seit 2015 das
"Inklusionsbarometer Arbeit“, welches seit 2013 jährlich erscheint. Sie hat selbst eine Spastik und eine Gehbehinderung und kennt sich daher mit den Vorurteilen bestens aus, denen behinderte Menschen auf dem Arbeitsmarkt begegnen. In unserem Gespräch erklärt sie, warum Chancen der Inklusion im Betrieb oft unterschätzt werden und wie Arbeitgeber und deren Mitarbeitende von Inklusion profitieren können.

Vorurteile über Inklusion

Frau Greskamp, warum sind so viele Unternehmen noch immer gehemmt, wenn es darum geht, Menschen mit Behinderung einzustellen?

Dagmar Greskamp: Das sind oftmals festgesetzte Vorurteile, dass Menschen mit Behinderung nicht leistungsfähig und häufiger krank seien. Beides ist nicht der Fall: Im letzten Jahr hatten wir als Teil des Inklusionsbarometers auch eine Umfrage gemacht, in der 80 Prozent der Unternehmen sagten, dass sie keine Leistungsunterschiede zwischen Menschen mit und ohne Behinderung sehen.

Auf unserem YouTube-Kanal gibt es ein sehr schönes neues Video, das zeigt, welchen Vorurteilen Menschen mit Behinderungen bei der Jobsuche so begegnen. Zu häufig wird man auf die Behinderung reduziert und das, was man an Fähigkeiten und Persönlichkeit mitbringt, findet dann gar keinen Raum mehr.

Man sieht auch häufig eine Pauschalisierung, die beispielsweise zutage tritt, wenn Unternehmen Inklusion probieren und es nicht klappt: Da heißt es dann manchmal „Das mach ich nie wieder!“, wo ich dann denke: Naja, lag das wirklich daran, dass du jemanden mit Behinderung eingestellt hast, oder war es einfach eine Frage der Qualifikation. Oder es hat es schlicht persönlich nicht gepasst?

Auch in diesem Beispiel wird die Behinderung als Faktor viel höher bemessen als die fachliche und persönliche Ebene. Dabei sollte bei einer Anstellung und bei der Bewertung der Zusammenarbeit eigentlich diese entscheidend sein. 

Dann gibt es natürlich auch Berührungsängste, dass man nicht weiß, wie man das Thema angeht, und manchmal ist es auch ein Matching-Problem: Unternehmen wissen nicht, wo sie geeignete Menschen mit Behinderung finden, und diese wiederum beschweren sich, dass sie keinen Job finden …

Vorurteile machen krank

Die IKK classic unterstützt Menschen dabei, einen gesunden Lebensstil zu führen. Dazu gehört auch ein gesunder Umgang miteinander – denn Diskriminierungserfahrungen führen zu Erkrankungen. Um das zu verhindern, gilt es die Ursache zu bekämpfen und Vorurteile abzubauen.

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Lieber Chancen verpassen, statt Inklusion zu meistern?

Was verpassen denn Unternehmen, die keine Inklusion betreiben?

Sie verpassen vor allem eine Chance, Fachkräfte oder ganz allgemein Arbeitskräfte zu finden. Wir sehen überall die Not, dass Unternehmen keine Leute finden, die sie einstellen können. Dabei gilt zum Beispiel: Unter arbeitslosen schwerbehinderten Menschen gibt es im Schnitt mehr Personen mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung bzw. einem abgeschlossenen Studium als bei arbeitslosen Menschen ohne Behinderung. Trotzdem suchen viele Unternehmen dort erst gar nicht.

Außerdem verpassen Unternehmen auch die Chance, etwas für das eigene Image zu tun, denn Inklusion kommt bei Kundinnen und Kunden gut an!

Und nicht zuletzt verpassen sie auch ein großes kreatives Potenzial. Die meisten Menschen mit Behinderung haben gelernt, mit Barrieren und Hindernissen umzugehen – eben gerade, weil sie tagtäglich mit diesen konfrontiert sind. Sie haben hohe Kompetenzen in praktischer Lösungsfindung oder wissen, wie sie sich Unterstützung oder Assistenz organisieren.

Worin bestehen speziell für Handwerksbetriebe und darunter auch gerade Kleinunternehmen die größten Potenziale?

Weil mit Behinderung häufig etwas Bestimmtes verknüpft wird, nämlich "Rollstuhl" oder "Downsyndrom" schrecken gerade kleinere Unternehmen oft vor Inklusion zurück: Da wird das Thema wegen des vermeintlich notwendigen rollstuhlgerechten Umbaus der Werkstatt schon vorab komplett beerdigt. Dabei könnte man genau die Arbeitskraft finden, die man braucht. Denn die unterschiedlichen Behinderungsarten sind extrem vielfältig und benötigen höchstwahrscheinlich gar keine Anpassung des Arbeitsumfelds. Und selbst wenn Umrüstungen notwendig wären, gibt es dafür Fördermöglichkeiten, um die man sich kümmern kann, nachdem man die richtige Person gefunden hat.

Im Handwerk können gerade auch die bereits angesprochenen kreativen Potenziale besonders wertvoll sein: Nur weil jemand wegen kognitiver Einschränkung nicht gut in Mathe ist, heißt das nicht, dass er ein schlechter Schreiner wird. Handwerkliche Begabung ist ja keine reine Frage schulischer Leistungen.

Eine weitere Möglichkeit, die sich auch in kleinen Betrieben anbietet, ist das sogenannte Job-Carving. Viele Kleinaufgaben werden zumeist unter mehreren Mitarbeitenden verteilt: das Sichern der Garage nach Feierabend, das Aufräumen der Werkstatt und so weiter – alles Aufgaben, die für den einzelnen Mitarbeiter on top kommen, zusätzlich zu seinen eigentlichen Kernaufgaben. Die kann man vielfach zu einer Stelle zusammenfassen, also sich sozusagen zurechtschnitzen. Und die kann dann von einem Menschen übernommen werden, der womöglich nicht die „großen“ Aufgaben bewältigen kann, aber eben die vielen „kleinen“, die dann alle immens entlasten und das Betriebsklima verbessern.

Ich erwähne das nur als Beispiel, dass Menschen mit Behinderung selbst dann den eigenen Betrieb bereichern können, wenn sie vermeintlich keine formelle Qualifikation haben – aber wie schon angesprochen: Die Vielzahl ist top qualifiziert! Es mangelt ihnen nicht an Fähigkeiten, sondern an Unternehmen, die den Schritt zur Inklusion wagen: Unternehmen jeder Größe können von dem Talent profitieren, dass hier nicht abgerufen wird.

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Unterstützung für Arbeitgeber

Wo können aufgeschlossene Arbeitgeber Unterstützung finden?

Erster und einfachster Anlaufpunkt sind die „Einheitlichen Ansprechstellen für Arbeitgeber“, kurz EAAs. Die gibt es in ganz Deutschland und man erfährt dazu zum Beispiel mehr über die Webseite der Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen (BIH) e.V. – dort gibt es auch eine Suchfunktion nach Postleitzahl. Oder einfach „EAA Inklusion“ zusammen mit dem eigenen Bundesland googeln, dann wird man auch schnell fündig.

Wer über Praktika oder Ausbildung Jugendlichen mit Behinderung eine Chance geben möchte, der kann sich natürlich auch lokal umsehen und -hören: Existieren Förder- oder Inklusionsschulen vor Ort? Oder Berufsbildungswerke in der Region – dort gibt es inzwischen auch immer mehr Ausbildungen, die zum Teil auch in Betrieben stattfinden.

Das eröffnet einem eine gute Möglichkeit, Inklusion einfach mal auszuprobieren und erste Erfahrungen zu sammeln. Und wer erste Erfahrungen hat, der merkt meist ganz schnell, wie viel das dem eigenen Unternehmen bringen kann – und lernt auch, dass die Behinderung in der Zusammenarbeit dann gar nicht so im Fokus steht, wie zuvor vermutet.

Weiterführende Informationen für Arbeitgeber

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Veröffentlicht am 19.12.2023

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