Sprach­entwicklungs­störung bei Kindern: Eine Logopädin weiß Rat

"Zweijährige sollten 50 Wörter sprechen können", heißt es in vielen Ratgebern. Wenn das eigene Kind dann in diesem Alter noch "Wauwau" statt Hund sagt, reagieren viele Mütter und Väter beunruhigt: Leidet ihr Nachwuchs etwa an einer Sprachentwicklungsstörung? Logopädin Sonja Utikal erklärt, worauf Eltern bei der sprachlichen Entwicklung achten sollten.

"Sag mal 'Mama'!" – die meisten Eltern können es kaum erwarten, ihrem Baby das erste Wort zu entlocken. Und auch den Kleinen eröffnet das Sprechen eine völlig neue Welt: Endlich können sie ihre Bedürfnisse so ausdrücken, dass Mama und Papa sie verstehen und sogar Kontakte mit anderen Kindern knüpfen. Manch ein Sprössling lässt sich mit dem Sprechen lernen allerdings etwas mehr Zeit – zur großen Beunruhigung der Eltern. Doch nicht immer steckt eine Sprachentwicklungsstörung dahinter.

Babys lernen ihre Muttersprache schon vor der Geburt

Die Sprachentwicklung beginnt lange vor dem ersten gesprochenen Wort – nämlich bereits im Mutterleib. Im letzten Schwangerschaftsdrittel nehmen Föten bereits den Klang von Stimmen und Gesprochenem wahr. Sobald ein Neugeborenes das Licht der Welt erblickt, fängt es auch schon an zu kommunizieren – mit seinem Geschrei signalisiert es der der Welt lautstark "Hallo, hier bin ich!". Schnell merkt das Kleine, wie es Mama und Papa mit schrillen Lauten nach seiner Pfeife tanzen lassen kann. Angespornt durch die Reaktion der Eltern baut es seinen "Wortschatz" aus: von Weinen über Lächeln bis hin zu Quietschen und glücklichem Gurren.

Sprechen Eltern oder andere Bezugspersonen regelmäßig mit dem Kind, verknüpft es die Laute seiner Muttersprache nach und nach mit bestimmten Ereignissen. Bald produziert es auch selbst Töne, imitiert seine Umwelt und versteht, welche Lauteinheiten mit einer bestimmten Bedeutung verbunden sind.

So verläuft die normale Sprachentwicklung

Sprechen lernen ist ein sehr individueller Prozess. Eine grobe Orientierung über den Verlauf der Sprachentwicklung bieten diese Meilensteine:

  • Bis zum 6. Monat

    Ab dem zweiten Lebensmonat testen Babys aus, was sie mit ihren Lippen alles machen können. Wie klingt es, wenn ich mit der Zunge schnalze oder durch die Lippen puste? Dabei produzieren sie auch Geräusche, die ersten Sprachlauten ähneln – und freuen sich, wenn Mama und Papa darauf reagieren.

  • Bis zum 9. Monat

    Das Baby produziert nach und nach alle möglichen Laute und baut daraus niedliche Silbenketten, wie zum Beispiel "ma-ma-ma". Eltern meinen oft, aus diesem Gebrabbel schon erste Wörter herauszuhören. Aber: Ihr Nachwuchs verbindet die Laute meist noch nicht mit einer bestimmten Bedeutung. Verstummt ein Kind stattdessen, kann das auf eine Hörstörung hinweisen.

  • Ab dem 9. Monat

    Babys brabbeln vor sich hin und kopieren dabei die Laute ihrer Umgebungssprache. Laute, die darin nicht vorkommen, etwa ein englisches "th" oder Klicklaute im Deutschen, nehmen Babys, die deutschsprachig aufwachsen, nicht in ihr Repertoire auf.

  • 1 Jahr: das erste Wort

    Gegen Ende des ersten Lebensjahres sprechen die meisten Kinder ihr erstes richtiges Wort. Sie haben also dessen Bedeutung als Verbindung einer Lautfolge mit einer bestimmten Sache oder Person verstanden. Besonders häufig bekommen Eltern als erstes "Mama" oder "Papa" zu hören.

  • 2 Jahre

    Nach und nach sammeln Kinder im zweiten Lebensjahr neue Vokabeln, bis sie mit circa 24 Monaten um die 50 Wörter beherrschen – wenn sie auch noch nicht alles fehlerfrei aussprechen. Die unflektierten Wortformen kombinieren sie schon fleißig zu Zwei-Wort-Sätzen wie "Mama kommen!" oder einfachen Fragen, etwa "Wo Papa?".

  • 3 Jahre

    Im dritten Lebensjahr explodiert der Wortschatz förmlich und enthält bis zum dritten Geburtstag rund 500 Wörter. Daraus bilden die Kleinen immer komplexere Sätze, Satzstellung und Flexion werden immer ausgefeilter. Ein Faktor dabei: Die Kleinen stellen in diesem Alter Fragen über Fragen und bekommen in den Antworten immer neue Formen zu hören, aus denen sie grammatische Regeln ableiten können.

  • 4 Jahre

    Vierjährige können sich über den Kontext der Gegenwart hinaus ausdrücken. Wenn sie über Ereignisse in der Vergangenheit und Zukunft erzählen, nutzen sie dabei die richtigen grammatischen Formen. Verstehen können sie sogar immer noch mehr, als sie aktiv nutzen. Erwischt Mama ihren Sohn trotz Verbot mit der Hand in der Keksdose, gilt fehlendes Verständnis spätestens jetzt nicht mehr als Ausrede.

  • 5 Jahre

    Wortschatz und Satzstellung sind so ausgereift, dass Fünfjährige schon ganze Geschichten erzählen können. Selbst schwierige Laute haben sie gemeistert, nur über die Zischlaute wie das S stolpern sie noch. Bis zum Schulstart verstehen ABC-Schützen schon fast alles, auch abstrakte Begriffe. Den grundlegenden Spracherwerb haben sie gemeistert – lernen aber bis ins Erwachsenenalter Neues hinzu.

Sprachentwicklungsstörung – was ist das?

Wenn ein Kind die Meilensteine nicht oder nur mit deutlicher Verzögerung erreicht, kann das auf eine gestörte Sprachentwicklung hindeuten. Symptome sind etwa ein besonders später Sprachbeginn, zu geringer Wortschatz oder das Vertauschen von Lauten. Knackt ihr Zweijähriges noch nicht die 50-Wort-Marke, müssen sich Eltern aber nicht gleich Sorgen machen: "Gut die Hälfte der sogenannten Late Talker holt diesen Rückstand bis zum dritten Lebensjahr wieder auf", sagt Sonja Utikal vom Deutschen Bundesverband für Logopädie e.V. Die andere Hälfte entwickelt jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Sprachentwicklungsstörung, so dass es wichtig sei, das Kind gerade in diesem Zeitfenster ab dem zweiten Geburtstag hinsichtlich des Spracherwerbs besonders gut zu beobachten und falls nötig zu unterstützen.

Erste Anlaufstelle ist hier die Kinderärztin oder der Kinderarzt. Zunächst gilt es, organische Faktoren als Ursache des verminderten Sprachvermögens auszuschließen – etwa eine Hörstörung, neurologische Erkrankungen oder eine geistige Behinderung. Danach kann eine Logopädin oder ein Logopäde anhand einer Sprachdiagnostik feststellen, ob eine behandlungsbedürftige Sprachentwicklungsstörung vorliegt. In diesem Fall gilt es, schnell eine Therapie einzuleiten. Sonja Utikal rät: "Je früher die Lücken im Fundament des Spracherwerbs geschlossen werden, desto besser kann das Kind seine Sprachfähigkeit ausbauen." Mit einer gezielten logopädischen Therapie erhöhen sich die Chancen, dass betroffene Kinder bis zum Schuleintritt altersgerecht kommunizieren können.

Stimm-, Sprech- und Sprachtherapie

Wenn Kinder Probleme in ihrer sprachlichen Entwicklung haben oder sich mit der Lautbildung schwer tun, profitieren sie von gezielten Übungen bei einem Sprachtherapeuten beziehungsweise Logopäden. Mehr erfahren

Sprachstörungen oder Sprechstörungen?

Der Unterschied zwischen Sprachstörungen und Sprechstörungen ist für Laien nicht immer leicht herauszuhören. Ein Beispiel: Wenn die kleine Susi Ihren Namen mit einem Lispeln ausspricht, kann sie den S-Laut vermutlich einfach nicht richtig artikulieren. Es handelt es sich also um eine Sprechstörung oder Artikulationsstörung. Dazu gehören auch Stottern und das sogenannte Poltern, bei dem Kinder ihr Sprechtempo nicht unter Kontrolle haben.

Ersetzt Susi jedoch den s-Laut beispielswiese durch ein F („Fonne“ statt Sonne), ist die Lautunterscheidung und damit das sprachliche System betroffen. In diesem Fall liegt eine Sprachstörung vor.

In beiden Fällen kann eine logopädische Behandlung helfen. 

Tipps von Logopädin Sonja Utikal: So fördern Sie die Sprachentwicklung Ihres Kindes

Ist es normal, wenn ein Kind mit zwei Jahren immer noch "Ato" statt "Auto" sagt? Logopädin Sonja Utikal kennt die Fragen, die Eltern umtreiben – und kann sie in vielen Fällen beruhigen. Im Interview erklärt Sie, wie man Kinder ohne Druck in die Welt der Sprache einführt.

Sonja Utikal M. A. leitet das Referat Logopädie des Deutschen Bundesverbandes für Logopädie e. V. in Frechen. Vor ihrer Ausbildung zur staatlich anerkannten Logopädin studierte sie Linguistik und Psychologie und ist heute auch als Lehr-Logopädin tätig.

Logopädin Sonja Utikal

Jedes Kind lernt anders – aber am besten ohne Druck

  • Frau Utikal, wie genau sollten Eltern die Meilensteine der Sprachentwicklung überwachen?

    Meilensteine wie das erste Wort zum ersten Geburtstag bieten eine gute Orientierung – letztendlich lernt aber jedes Kind in seinem eigenen Tempo. Mit zwei Jahren 50 Wörter sprechen heißt zum Beispiel nicht, dass die auch alle perfekt ausgesprochen sein müssen: Auch Vereinfachungen wie "Ato" für Auto oder "Nane" für Banane zählen als Wörter. Wenn Kinder weniger als 50 Worte sprechen, muss dies nicht generell ein Grund zur Besorgnis sein: Manche Kinder beginnen in dieser Zeit schon damit, Wörter zu kombinieren ("Ball weg") und trainieren damit bereits die Satzbildung.

  • Woran merkt man, ob das eigene Kind Hilfe beim Sprechen lernen braucht?

    Meiner Erfahrung nach können sich Mütter und Väter dabei fast immer auf ihr Bauchgefühl verlassen. Kann ein Kind sich zum Beispiel durch einen eingeschränkten Wortschatz nicht ausreichend mitteilen, leidet sein Wohlbefinden darunter – das spüren Eltern ganz intuitiv. Manche Kinder verhalten sich sehr still und ziehen sich zurück, andere zeigen ihren Frust über die unzureichende Ausdrucksfähigkeit durch zunehmendes Quengeln oder häufiges Weinen. Gerade bei Problemen mit dem Sprachverständnis berichten Eltern oft davon, dass der Alltag mit dem Kind sehr anstrengend sei, weil sie das Kind sprachlich nicht gut "erreichen". In solchen Fällen sollten Eltern ihre Beobachtungen im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen beim Kinderarzt ansprechen.

Vorsorgeuntersuchungen für Kinder

Damit sich Ihr Kind gesund entwickelt, erhält es mit den regelmäßigen U-Untersuchungen die bestmögliche Vorsorge. Auch die sprachliche Entwicklung wird untersucht, zum Beispiel bei der U7 und U7a. Mehr erfahren

Sprechen lernen Kinder im Gespräch – nicht vor dem Fernseher

  • Können Eltern die Sprachentwicklung gezielt fördern?

    Eltern verfügen hier über angeborene Kompetenzen, etwa ihre Satzlänge und die Stimmlage auf die Bedürfnisse ihres Kindes anzupassen – zumindest ist dies für das Säuglings- und Kleinkindalter erforscht. Wenn die Kinder etwas älter werden, ist es wichtig, den gemeinsam Alltag möglich sprachreich zu gestalten und Handlungen zu verbalisieren. Im Supermarkt kann man etwa sagen: "Zuerst brauchen wir einen Einkaufswagen. Jetzt suchen wir den Reis. Siehst du ihn schon? Wie sieht der denn nochmal aus?" Auch beim Lesen von Bilderbüchern können Eltern zum Sprechen animieren, indem sie ihren Kindern gezielt Fragen zum Inhalt stellen, die sich nicht ausschließlich mit "Ja.", "Nein." und "Da!" beantworten lassen. Hier gibt zum Beispiel die Stiftung Lesen wertvolle Impulse, etwa mit den "Lesestart"-Projekten.

    Meine wichtigste Empfehlung für Eltern ist in Zeiten allgegenwärtiger digitaler Ablenkung und ständiger Erreichbarkeit durch Handy & Co.: Nehmen Sie sich bewusst Zeit, um Ihrem Kind ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken und mit ihm ins Gespräch zu kommen! Denn Sprache entwickelt sich am besten in der Kommunikation. Das ist im Alltag nicht immer leicht umzusetzen, doch auch hierbei können Logopädinnen und Logopäden beratend zur Seite stehen. Etwa mit Hinweisen auf die Ideen wie das "Handy-Bett" aus dem Büchlein "Papa, wann schläft dein Handy?" der Auerbach-Stiftung, das auch als Youtube-Video frei verfügbar ist.

  • Wie kann eine logopädische Therapie Kindern mit einer Sprachstörung helfen?

    Zunächst einmal bestimmen Logopädinnen und Logopäden durch informelle Verfahren, Fragebögen und/oder standardisierte Sprachentwicklungstests den genauen Entwicklungsstand des Kindes. Diagnostizieren wir hierbei eine maßgebliche zeitliche und qualitative Abweichung vom normalen Spracherwerb, erstellen wir einen individuellen Therapieplan.

    Die Behandlung erfolgt dann kindgerecht: spielerisch und orientiert an den individuellen Vorlieben und Interessen des Kindes. Denn das wissen auch wir Erwachsenen: Wenn wir etwas spannend, interessant und attraktiv finden, steigt unsere Motivation und Anstrengungsbereitschaft. In der Therapie kommen deshalb unter anderem Spiele zum Einsatz, bei denen Therapeuten gehäuft sprachliche Zielstrukturen  anbieten können. Diese muss das Kind dann produzieren, um das Spiel zu gewinnen. Der Spaß am Sprechen lernen steht dabei immer im Mittelpunkt. Deshalb freut es mich besonders, wenn eine Patienten oder ein Patient nach einer Therapiestunde sagt: "Mama, wir haben heute nur gespielt!"

  • Welche Besonderheiten gibt es für Kinder, die zweisprachig aufwachsen?

    Weltweit betrachtet ist es eher der "Normalfall", dass Kinder mit zwei oder mehr Sprachen gleichzeitig aufwachsen. Das einsprachige Umfeld, wie hier in Deutschland, ist eher die Ausnahme. Mehrsprachigkeit ist also ganz natürlich und wirkt sich sogar unterstützend auf die kognitive Entwicklung aus, wie wir heute wissen. Mehrsprachig aufwachsende Kinder erreichen die Meilensteine der Einzelsprachen in einigen Fällen etwas später als gleichaltrige Kinder, die einsprachig aufwachsen.

    Wichtig bei der zwei- oder mehrsprachigen Erziehung ist jedoch: Jedes Elternteil sollte mit dem Kind in der Sprache sprechen, die es selber auf muttersprachlichem Niveau beherrscht, auch wenn diese nicht der Umgebungssprache entspricht. Denn gute Sprachfähigkeiten in der Muttersprache sind eine wichtige Voraussetzung für den Erwerb weiterer Sprachen. Sprachentwicklungsstörungen betreffen dahingegen jede Sprache und würden deshalb auch in jeder Sprache auftreten.

Checkliste: Die kindliche Sprachentwicklung von der U3 bis zur U9

Mit der Checkliste des Deutschen Bundesverbandes für Logopädie e.V. können sich Eltern auf die Fragen vorbereiten, die ihnen ihre Kinderärztin oder ihr Kinderarzt bei den Vorsorgeuntersuchungen zur sprachlichen Entwicklung ihres Kindes stellt.

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