Ex-Neonazi Philip Schlaffer: Mit Wert­schätzung gegen Vorurteile

Redaktion
IKK classic

Philip Schlaffer war 15 Jahre lang Neonazi. Heute ist er Anti-Gewalt- sowie De-Radikalisierungstrainer und bringt seine Erfahrungen als Referent auf Konferenzen ein. Er hat seine Vorurteile überwunden. Was können wir von ihm lernen?

Alle Menschen haben Vorurteile – und das spürt auch Philip Schlaffer. Viele Menschen haben Vorurteile ihm gegenüber: "Einmal Nazi, immer Nazi", so das Credo, mit dem der 43-Jährige oft konfrontiert wird. Dabei hat Schlaffer seine extremistische Vergangenheit hinter sich gelassen, er leistet Aufklärungsarbeit, geht dafür in Schulen und tritt mit dem "Extremislos e.V." für Toleranz, Vielfalt, Gewaltfreiheit und Gleichwertigkeit aller Menschen ein. 

Wie hat Schlaffer diesen Umschwung geschafft? Was kann jede und jeder Einzelne tun, Vorurteile abzubauen? Und wo kann man ansetzen, um einen Wandel hin zu einer vorurteilsfreieren Gesellschaft anzuschieben? Im Interview verrät er, warum Wertschätzung ein wichtiger Faktor sein kann – und wir auch bei extremen Meinungsverschiedenheiten die Türen nicht zuschlagen sollten.

Menschen kennenlernen baut Vorurteile ab

  • Welche Vorurteile begegnen dir heute noch?

    Ganz klassisch ist der Satz: Einmal Nazi, immer Nazi. Veränderung ist nicht erlaubt. Ich werde ganz oft reduziert auf gewisse Äußerlichkeiten. Wieso hat er sich nicht alle Tattoos lasern lassen? Wieso trägt er heute noch einen Scheitel? Wieso geht er noch zum Kraftsport? Und viele dieser Angriffe kommen natürlich übers Internet.

  • Also fällt es anderen Leuten schwer zu verzeihen?

    Ich glaube, es geht dabei weniger ums Verzeihen. Da geht es um das eigene Weltbild, das man nicht hinterfragen will. Vielleicht hat man selbst noch keine Veränderungen durchgemacht, dann traut man das anderen auch nicht zu. Viele wollen gerne das Bild im Kopf behalten, das sich über Jahre hinweg aufgebaut hat.

  • Wie kommt man denn überhaupt dazu, die eigenen Vorurteile zu hinterfragen?

    Bei mir hat das eine längere Zeit gedauert. Erst nachdem ich erste Menschen kennengelernt hatte, gegenüber denen ich Vorurteile hatte und gemerkt habe, dass aus oberflächlichen Bekanntschaften sogar Freundschaften werden, da habe ich überhaupt erst mal angefangen zu hinterfragen, was mein Weltbild war. 

    Das heißt, die Begegnung mit anderen Menschen hat dazu geführt, dass ich dazugelernt habe. Dass nicht alle so sind, wie ich mir das vorgestellt habe. Oft werde ich heute gefragt, ob ich bestimmte Menschen immer noch hasse. Und klar kommt das vor. Aber dann habe ich diese Menschen kennengelernt. Wenn ich bestimmte Dinge an Menschen nicht mag, liegt das an deren Charakter und nicht an der Religion oder der Herkunft.

Das Vorschaubild für Folge 1 der Videoserie zu Vorurteile machen krank
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Ab wann Vorurteile gefährlich werden

In der ersten Folge unserer Videoserie zu #vorurteilemachenkrank geht es um die Fragen, was Vorurteile eigentlich sind, woher sie kommen und ab wann sie problematisch werden. Außerdem stellen wir unsere Gäste vor, die in den nächsten Folgen ausführlich zu Wort kommen werden.

  • Wie schwer war für dich der Absprung aus der Nazi-Rocker-Szene? Das ist jetzt sieben Jahre her – aber ist das irgendwann wirklich abgeschlossen?

    Grundsätzlich ist für mich der Prozess abgeschlossen. Ich bin gesellschaftlich wieder sehr gut angekommen, und bin sehr liberal heute. Aber natürlich war ich 20 Jahre lang aktiv in den unterschiedlichsten Milieus und bin ein bisschen derber als vielleicht der eine oder andere. Aber ich versuche immer wieder an mir zu arbeiten und mich mit den großen Fragen auseinanderzusetzen. Und das ist das, was ich weitergebe. 

    Allerdings reicht das vielen nicht. Dann werde ich kritisiert, wenn ich am Wochenende zu viel Gin Tonic trinke, zu viel Fleisch esse, einen zu großen Diesel fahre oder Gendern ablehne. Die Leute wollen noch das Tier sehen. Ich sage dann immer: Reicht es euch nicht, dass ich nicht mehr gewalttätig und fremdenfeindlich bin, und nicht mehr hasse?

    Das wird ja auch zu einer Hürde für andere, die sich verändern wollen. Weil sie denken, sie müssten dann auf einmal von einem Rechtsextremen zu einem Linken werden. Aber du musst einfach wieder Demokrat werden und das ist dann auch vollkommen in Ordnung.

Ich glaube daran, dass sich junge Menschen nicht radikalisieren, wenn sie ernst genommen werden, eine Perspektive haben, Wertschätzung erfahren, und nicht sofort stigmatisiert werden.

Philip Schlaffer, Ex-Neonazi

Demokratieunterricht in der Schule

  • Was muss deiner Meinung nach das Umfeld leisten, um Vorurteile abzubauen? Und wieviel muss eine Person dafür selbst tun?

    Auf der gesellschaftlichen Ebene glaube ich daran, dass sich junge Menschen nicht radikalisieren, wenn sie ernst genommen werden, eine Perspektive haben, Wertschätzung erfahren, und nicht sofort stigmatisiert werden. Ich denke, dass diese jungen Leute dann nicht für Extremismus oder Kriminalität anfällig sind. Und selbst wenn das Elternhaus das nicht immer leisten kann, geht das stattdessen in der Schule, in Jugendclubs oder im Fußballverein. 

    Wir als Erwachsene sollten auch nicht immer so arrogant sein und sagen: Bei jungen Leuten wächst sich das raus oder ist halb so schlimm. Auch junge Leute haben Brüche in ihrer Biografie. Es sind nicht immer nur Erwachsene, die im Job vielleicht gescheitert sind oder eine Trennung nicht verkraftet haben. Das kann bei jungen Leuten genauso sein. Da sollten wir zuhören und achtsam sein und fragen, wie man da Hilfestellung leisten kann. 

    Noch eine andere Perspektive: Ich komme manchmal in Klassen mit 14, 15, 16 Jahre alten Schülern, die wirklich sehr wenig darüber wissen, was das Grundgesetz bedeutet, welche Vorteile unsere Demokratie bietet und wie gut dieses Land und Europa funktionieren. Wir können stärker vermitteln, wie privilegiert wir leben. Damit man nicht immer den Staat und die Gesellschaft als Feinde ansieht. Ich denke, sowas kann Schule auch leisten. Da geht es darum, dass man nicht nur das Historische auswendig lernt, sondern diese Werte auch vermittelt.

  • Du bist ja auf Social Media sehr präsent. Wirst du oft darüber kontaktiert, nachdem du in einer Schulklasse warst?

    Die Kontaktaufnahme mit den Schülern läuft zu 100 Prozent über Social Media. Denn niemand will sich vor den anderen offenbaren. Zum Beispiel, wenn der Vater Rassist ist und immer über alles meckert. Da meldet sich keiner. Wer will sich da schon preisgeben, das würden wir Erwachsene auch nicht machen. 

    Ein Beispiel: Nachdem ich letzte Woche in einer Schule war, hat mir einer geschrieben, dass sich sein Vater ein Hakenkreuz hat tätowieren lassen und wie er damit umgehen soll. Und genau diese Anfragen kommen dann über Social Media. 

  • Es gibt ja auch viele Beratungsangebote von offizieller Seite. Was bietest du, was diese Angebote nicht liefern können?

    Grundsätzlich gilt das Prinzip: Alle Wege führen nach Rom. Viele haben erstmal weniger Schwierigkeiten auf mich zuzukommen, weil ich eine Art Credibility habe, ohne den moralischen Zeigefinger, ohne Wertung. Man kann mit mir unverbindlich Kontakt aufnehmen. Wir als Verein arbeiten aber auch mit Ausstiegsprogrammen zusammen, die wir dann empfehlen können. Aber ich glaube, was wir geschafft haben, ist die Hemmschwelle so niedrig zu setzen, dass die Kontaktaufnahme so einfach wie möglich ist. 

    Wer aussteigen und sich informieren will, hat vielleicht Angst, gleich beim LKA oder Verfassungsschutz zu landen. Dann stellen wir die Programme vor, mit denen wir zusammenarbeiten und versichern, dass die vertrauenswürdig sind. 

Vorurteile machen krank

Die IKK classic unterstützt Menschen dabei, einen gesunden Lebensstil zu führen. Dazu gehört auch ein gesunder Umgang miteinander – denn Diskriminierungserfahrungen führen zu Erkrankungen. Um das zu verhindern, gilt es die Ursache zu bekämpfen und Vorurteile abzubauen.

Mehr zur Studie
  • Besonders die Corona-Pandemie hat unsere Gesellschaft zutiefst gespalten. Wie schaffen wir es wieder, aufeinander zuzugehen?

    Wir stehen aktuell vor einer großen Herausforderung. Dafür gibt es keinen Lösungsansatz, der in einen Fünf- oder Zehnjahresplan passt. Wir müssen da eine längere Reise gehen, um wieder zusammenzukommen. Und das sollte man versuchen! Auch mit jungen Leuten und Heranwachsenden. 

    Wir sollten davon absehen, alle Leute zu stigmatisieren. Nicht jeder, der gegen Corona-Maßnahmen demonstriert, ist ein Nazi. Nicht jeder, der sagt, wir brauchen Einwanderung, ist links-grün-versifft. Wir müssen unsere Sprache wieder unter Kontrolle bekommen und den Leuten auch die Möglichkeit geben, immer wieder zurückzukommen. Wir dürfen die Türen nicht zuschmeißen. 

    Ich sehe im Freundes- und Bekanntenkreis, dass da mittlerweile Leute außen vorgelassen werden, weil sie zum Beispiel gegen die Impfung sind. Und da müssen wir vorsichtig sein, damit wir die Lager nicht noch weiter spalten. Am Ende sollten wir immer wieder gesprächs- und kompromissbereit sein. Da stehen wir vor einer Riesenaufgabe.

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Veröffentlicht am 14.09.2021

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