Doping für die Arbeit und gegen den Schmerz: Drogen am Arbeitsplatz

Einfach ein, zwei Pillen einwerfen und schon macht sich der Job mit links – das klingt zwar sehr verlockend, ist aber vor allem sehr gefährlich. Auch dann, wenn es sich NUR um eine Kopfschmerztablette handelt. Eine Abhängigkeit entsteht schneller, als den meisten Menschen bewusst ist.

Warum entsteht eine Sucht?

Etwa 1,6 Millionen Deutsche zwischen 18 und 64 Jahren sind abhängig von Medikamenten – zu diesen Ergebnissen kommt der epidemiologische Suchtsurvey aus dem Jahr 2018. Aber wie definiert sich Abhängigkeit? Laut Prof. Dr. med. Ulrich W. Preuss, dem stellvertretenden Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft für Suchtmedizin e. V., müssen drei der folgenden sechs Kriterien zutreffen.

Diese 6 Kriterien weisen auf eine Abhängigkeit hin

Mindestens drei der folgenden Kriterien müssen mindestens einen Monat innerhalb von zwölf Monaten zutreffen.

  • Der Drang, eine Substanz unbedingt einnehmen zu müssen.

  • Entzugserscheinungen, die sich auf die Substanz beziehen.

  • Eine Toleranzentwicklung. Die Folge: Die Konsummenge steigert sich erheblich, um den gewünschten Effekt zu erzielen.

  • Ein Kontrollverlust über den Substanzkonsum – der Betroffene nimmt deutlich mehr, als er beabsichtigt hatte.

  • Die Vernachlässigung wichtiger Aktivitäten zugunsten des Konsums.
    Darunter fallen unter anderem häufige Krank- und Fehlzeiten im Beruf, soziale Isolation oder gar mangelnde Körperhygiene.

  • Ein anhaltender Substanzkonsum, trotz negativer Folgen.

„Ein täglicher oder hoher Konsum definiert noch keine Abhängigkeit“, betont Prof. Preuss. Allerdings kann die regelmäßige Einnahme im Bereich der empfohlenen Dosis auf eine Konsumstörung hindeuten – gerade wenn psychische oder körperliche Schäden aufgetreten sind. In diesem Fall sprechen Experten von einem schädlichen Gebrauch.

Verordnet ein Arzt hohe Dosen eines Medikaments (zum Beispiel im Rahmen einer Schmerztherapie), wird das nicht als Abhängigkeitserkrankung gewertet. Auch wenn der Patient eine Toleranz gegenüber der Substanz entwickelt oder Entzugserscheinungen aufweist. „Wichtig ist, dass der behandelnde Arzt die Indikation und Dosis nach Risiko- und Nutzenverhältnis regelmäßig überprüft und die Dosis im Verlauf sorgfältig überwacht“, erklärt der Fachmann.
 

Ein täglicher oder hoher Konsum definiert noch keine Abhängigkeit.
Prof. Dr. med. Ulrich W. Preuss

Welche Schmerzmittel sind besonders gefährlich?

Opioide (eine schwächere Form ist beispielsweise der Arzneistoff Tramadol) werden als Pillen, Zäpfchen oder Pflaster verabreicht und können bei längerer Einnahme zu körperlicher Abhängigkeit führen. In den USA gibt es sogar eine Opioid-Krise: 2017 starben etwa 40.000 US-Bürger aufgrund dieses Schmerzmittels. Menschen aus allen Gesellschaftsschichten sind von ihm abhängig; Einsätze von Rettungskräften wegen einer Überdosis sind an der Tagesordnung. Obendrein ist der Schritt zur härteren Droge wie Heroin oder Fentanyl oft nicht weit. Dieser Zustand ließ Präsident Donald Trump den nationalen Notstand ausrufen.

Laut der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS) sind ähnliche Verhältnisse in Deutschland zwar (noch) nicht zu befürchten, aber die Entwicklung ist ebenfalls alles andere als erfreulich. Der Epidemiologische Suchtsurvey zeigt, dass ein „schädlicher Gebrauch“ von Schmerzmitteln hierzulande mittlerweile weitaus häufiger ist als der von Alkohol.

Wo liegt das höchste Suchtpotenzial?

Der Deutschen Hauptstelle für Suchtgefahren (DHS) zufolge besteht bei fünf Prozent der häufig verschriebenen Medikamente Suchtgefahr. Doch nicht die Schmerzmittel stehen hier an erster Stelle: die meisten Betroffenen sind süchtig nach Schlaf- und Beruhigungsmitteln. Um immer wieder an Nachschub zu kommen, ist Ärzte-Hopping keine Seltenheit. Die Gründe: Die Angst, bei einem Arzt ein Rezept nicht zu bekommen und Schamgefühle. „Wer erst mal abhängig ist, findet Wege", betont Klingler. Neben dem Schwarzmarkt ist der Medikamentenschrank eines Verwandten oder Bekannten eine zuverlässige Bezugsquelle.

Bei den nicht-rezeptpflichtigen Medikamenten schätzt die DHS sogar zwölf Prozent mit einer Suchtgefahr ein. Dazu zählen unter anderem Schmerz- und Abführmittel sowie Nasensprays – und eben auch muskelentspannende Arzneimittel wie pflanzliche Schlaf- und Beruhigungsmittel. Im Jahr 2017 gaben die Deutschen dafür 220 Millionen Euro aus. 

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Welche Gründe führen zur Abhängigkeit von Medikamenten?

Bei der Einnahme von Medikamenten über einen längeren Zeitraum ohne ärztliche Indikation geht es oft darum, den Arbeitsalltag besser oder leichter zu bewältigen. Entweder versprechen sich Konsumenten von den Pillen eine höhere Leistungsfähigkeit oder sie wollen Ängste und Überforderung kompensieren. Nicht selten ist Schmerz der Auslöser, beispielsweise wenn Rückenschmerzen sonst zu starken Einschränkungen führen würden. „Die Behandlung mit Ibuprofen oder Diclofenac kann durchaus Sinn machen. Beide haben eine entzündungshemmende Wirkung, die den Heilungsprozess unterstützt“, erklärt Frank Klingler, Leiter des Referats Betriebliche Gesundheitsförderung bei der IKK classic. „Allerdings sollte das nicht über einen längeren Zeitraum und nur in Absprache mit einem Arzt passieren.“ Und das gilt natürlich vor allem dann, wenn für Patienten stärkere, verschreibungspflichtige Schmerzmittel wie Opioide ins Spiel kommen.

Welche Folgen hat eine Medikamentensucht?

Im Gegensatz zur weitverbreiteten Meinung ist das Siegel „freiverkäuflich“ keinesfalls ein Freifahrtschein zur bedenkenlosen Einnahme. „Jedes Medikament hat Nebenwirkungen“, erklärt Klingler. „Zum Beispiel wirkt sich Ibuprofen negativ auf die Schleimhäute aus, gerade im Magen und Zwölf-Finger-Darm. Es kann zu Geschwüren kommen und die Blutgerinnung verschlechtert sich. Zudem zeigen Studien, dass eine längere Einnahme die Gefahr eines Herzinfarkts oder Schlaganfalls erhöht“, so der Experte.

Letzteres gilt übrigens auch für den Wirkstoff Diclofenac, weshalb Tabletten und Kapseln mit diesem Inhaltsstoff in Schweden ab Juni 2020 nur noch per Rezept zu haben sind. Natürlich ergeben sich durch die Nebenwirkungen ebenfalls direkte Gefahren für den Arbeitsalltag. Valium erhöht beispielsweise die Schwindelanfälligkeit – ein No-Go für Dachdecker oder Gerüstbauer.

Schon allein der Gedanke daran, wie der Betroffene an die nächste Packung Schmerzmittel kommt, kann unkonzentriert machen, die Leistungsfähigkeit leidet. Bekommt ein Patient seine Droge nicht, drohen ihm Entzugserscheinungen – körperliche und psychische. Innere Unruhe, Kopfschmerzen, Angstzustände oder Zittern sind einige Beispiele.

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Wie lösen sich Betroffene aus der Abhängigkeit?

„Wer selbst in einer Suchtspirale steckt, wird das kaum erkennen“, sagt Klingler. „Der Patient braucht Hilfe von außen, etwa vom Partner oder von Kollegen“. Der Experte betont, dass das berufliche Umfeld oft geeigneter ist als der Partner. Denn Kollegen sind in der Regel objektiver. Als Partner verzeiht man Fehler schneller oder schaut aus Solidarität weg. Aber das trifft teilweise auch auf Kollegen zu. „Wir als Krankenkasse haben Erfahrung mit dem Thema Co-Abhängigkeit im Betrieb. Das heißt, auch Kollegen werden untereinander erstaunlich oft gedeckt. Aber irgendwann platzt doch der Kragen, weil ständig Arbeit mit übernommen werden muss.“ Zudem kann es schlichtweg gefährlich werden, beispielsweise wenn der Betroffene mit auf die Baustelle fährt.

Oft deutet sich eine Medikamentenabhängigkeit schleichend an. „Isoliert sich ein Mitarbeiter immer mehr von den anderen, fehlt häufig oder wirkt abwesend, kann das auf ein Suchtverhalten hindeuten. Vorgesetze und Kollegen sind in der Verantwortung, der Süchtige selbst hat meist die Macht über sein Handeln verloren“, sagt der Experte. In Handwerksbetrieben nimmt der Chef die Sache meist selbst in die Hand und macht eindeutig klar, dass Handlungsbedarf besteht. Im Idealfall vermittelt er einen Kontakt zu einer Beratungsstelle. Auf der Internetseite des Fachverbands Sucht e.V. finden sich zahlreiche Anlaufstellen. 

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Welche Möglichkeiten zur Suchtprävention gibt es?

Prinzipiell lassen sich viele Medikamentenabhängigkeiten umgehen. „Wenn ich mich gesund ernähre, weiß, wie ich mit Stress umgehe, mich ausreichend bewege und Sport treibe, zudem soziale Kontakte pflege, schlafe ich in der Regel gut und brauche keine Schlaftabletten“, sagt Klingler. Benötigt der Mensch welche, liegt dahinter vielleicht ein Problem, das sich durch eine gesunde Lebensführung lösen lässt. Auch bei Kopfschmerzen rät Klingler gemeinsam mit dem Patienten zu prüfen, ob nicht andere Gründe wie eine Nackenverspannung, Stress oder schlechte Luft vorliegen, anstatt direkt zum Medikament zu greifen. „Der Arzt steht hier ebenfalls in der Verantwortung, auf diese Faktoren zu verweisen und nicht sofort Tabletten zu verschreiben“, sagt der Experte für Prävention und Gesundheitsförderung.

Doch nicht nur der Einzelne, auch ein Betrieb kann etwas zur Suchtprävention beitragen. Indem er für das Thema sensibilisiert wird und schnell handelt. So bietet die IKK classic ein entsprechendes Seminar an. „Es richtet sich nicht an Betroffene, sondern an den gesamten Betrieb und thematisiert den Umgang mit einem Abhängigen“, erklärt Klingler. Hilfreich ist hierbei das „Waage-Modell“ (siehe Schaubild). Dies verdeutlicht, wie wichtig die Unterstützung von außen ist. Leider sind solche Trainings noch die Ausnahme. „Sie werden bei weitem nicht so oft umgesetzt wie beispielsweise Programme zu Stressmanagement“, erklärt Klingler. „Sucht ist immer noch ein Tabuthema.“

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