Was ist ein seelisches Trauma und wie erkennt man es?

Redaktion
IKK classic

Manche Erlebnisse sind so dramatisch, dass das menschliche Gehirn sie nicht verarbeiten kann. Traumatisierte Menschen leiden oft ihr ganzes Leben unter schwerwiegenden Folgestörungen. Doch wo liegt der Unterschied zwischen einer belastenden Lebenssituation und einem Trauma? Was sind die Ursachen und Symptome? Und wie kann man Traumapatienten helfen? Ein Experte klärt auf.

Erst Corona und soziale Isolation, jetzt Krieg in Europa: Die heile Welt, wie wir sie kannten, scheint aus den Fugen geraten. Vielen schlagen die negativen Nachrichten regelrecht auf den Magen, andere sind gereizt, verängstigt oder können nicht mehr ruhig schlafen. Viele fürchten, dass sie durch die schrecklichen Bilder, die sie jeden Tag im Fernsehen sehen, traumatisiert werden.

Trauma und Zukunftsängste strikt trennen

Eine Sorge, die Dr. Björn Nolting, Chefarzt der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Klinikum Esslingen, ihnen nehmen kann: „Dass die Pandemie und auch die derzeitigen Ereignisse in der Ukraine sehr belastend sind, ist vollkommen klar. Aber ein Trauma vermögen sie bei sonst psychisch gesunden Menschen, die die Geschehnisse von zuhause vor dem Fernseher aus beobachten, nicht auszulösen.“

Dr. Björn Nolting, der auch Leiter der Traumaambulanz am Klinikum Esslingen ist, warnt zudem davor, den Begriff Trauma inflationär zu gebrauchen: „Zu einem Trauma kommt es dann, wenn man selbst in eine extreme, lebensbedrohliche Situation gerät, die mit Todesangst verbunden ist. In den neuen Klassifikationssystemen psychischer Erkrankungen kann aber auch das Miterleben von entsprechenden Situationen traumatisierend wirken. Prinzipiell muss jedoch eine klare Grenze zwischen einem belastenden Lebensereignis und einer traumatisierenden Erfahrung gezogen werden.“

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Ursachen und Auslöser von Traumata

Und doch: Für manche Menschen kann die Kriegsberichterstattung zur Tortur werden. Etwa bei jenen, die Krieg schon am eigenen Leib erlebt haben oder selbst Opfer von Gewalt geworden sind. „Bei ihnen können die Fernsehbilder als Trigger wirken und alte Wunden aufreißen, die noch nicht verheilt sind. Dann kommen die eigenen schlimmen Erlebnisse wieder hoch. Betroffene werden von sogenannten Flashbacks heimgesucht. Das heißt, sie durchleben ihr persönliches Trauma noch einmal – oder immer wieder“, so Dr. Nolting.

Doch nicht nur Krieg oder körperliche Gewalt können zu einem Trauma führen. Auch das persönliche Erleben von Terror, Flucht und Vertreibung, sexueller Missbrauch, Misshandlung oder Folter können Auslöser sein. Ebenso ein schwerer Unfall, eine Geburt mit Komplikationen, eine Naturkatastrophe, emotionaler Missbrauch oder die Beobachtung des gewaltsamen Todes eines anderen Menschen können traumatische Erfahrungen sein.

Trauma-Symptome: Seele im Ausnahmezustand

Durch tiefe seelische Erschütterungen wie diese wird das Gehirn regelrecht von Stress überflutet. Die angeborenen psychischen Schutzmechanismen funktionieren nicht mehr. Das Gehirn ist nicht in der Lage, das Erlebte in seinen Erfahrungsschatz zu integrieren und auch wieder Abstand davon zu gewinnen, so wie es sonst bei der Verarbeitung von äußeren Reizen der Fall ist.

Unmittelbar nach dem überwältigenden Ereignis reagiert der Organismus häufig mit typischen Stresssymptomen wie Herzrasen, Kopfdruck, vermehrtem Schwitzen oder Übelkeit. Häufig wird dieser Zustand als „Nervenzusammenbruch“ bezeichnet. Mediziner sprechen von einer Akuten Belastungsreaktion (ABR).

In der Regel dauert die Phase der Akuten Belastungsreaktion einige Stunden bis Tage an. Es können aber auch Wochen vergehen, bis es den Selbstheilungskräften der Psyche gelingt, das Erlebte zurückzulassen, sodass die Symptome verschwinden.

Typische Verhaltensmuster nach einem Trauma

In der Traumaforschung werden für die Zuordnung von Symptomen und Verhaltensauffälligkeiten bei Traumapatientinnen und -patienten drei Gruppen definiert:

  • 1. Wiedererleben der traumatisierenden Situation

    Betroffene haben Alpträume und werden von Flashbacks heimgesucht. Sie durchleben das traumatische Ereignis mitsamt aller (Todes-)Ängste, als fände es tatsächlich noch einmal genauso statt. Getriggert wird dieser „innere Film“ durch alltägliche äußere Reize – wie etwa die Sirene eines Polizeiautos, die die Bilder eines Unfalls wieder aufflammen lässt.

  • 2. Übererregbarkeit

    Betroffene stehen unter permanenter Anspannung und sind sehr schreckhaft.

  • 3. Vermeidungsverhalten

    Betroffene gehen Situationen aus dem Weg, die sie an das traumatische Ereignis erinnern könnten. Sie ziehen z.B. aus der Stadt weg, fahren kein Auto mehr (Unfallvermeidung) oder nehmen nicht mehr die Bahn (Opfer einer Gewalttat).

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Rund ein Viertel der Betroffenen entwickelt eine Traumafolgestörung

Verharrt der Organismus länger auf diesem hohen Stressniveau, kann dies zu sehr belastenden psychischen und körperlichen Folgestörungen führen: „Wenn diese Muster nicht mehr verschwinden, spricht man von einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS)“, erklärt Dr. Björn Nolting.

Etwa ein Viertel bis ein Drittel der Traumapatientinnen und -patienten entwickelt eine solche Traumafolgestörung. Sie leiden beispielsweise unter Angstzuständen, Schlaflosigkeit, Alpträumen oder Panikattacken. Manche entwickeln eine Depression, ziehen sich vollkommen zurück oder stumpfen emotional ab. Bei anderen kommt es zu psychosomatischen Erkrankungen wie chronischen Bauch- oder Kopfschmerzen, zu Zwangsstörungen oder Suchterkrankungen. „In sehr seltenen Fällen mit schwerer Traumatisierung wie Folter, kann es auch zu einer Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung kommen. Langanhaltende und repetitive Traumatisierungen in der Kindheit über einen längeren Zeitraum können zu einer komplexen Traumafolgestörung führen“, so Dr. Nolting.

Wie sehr ein dramatisches Erlebnis das weitere Leben beeinflusst, hängt von der individuellen Widerstandsfähigkeit eines Menschen ab, Resilienz genannt. Personen mit einer starken Resilienz erholen sich schneller und leiden seltener an Folgeerkrankungen. Aber auch die unmittelbare soziale Unterstützung durch Bezugspersonen verringert die Gefahr, psychisch zu erkranken.

Behandlung: Wege aus dem Trauma

Eine Posttraumatische Belastungsstörung kann gravierende Auswirkungen auf das Leben und die gesamte Biografie  eines Menschen haben. In der Regel ist psychotherapeutische Hilfe nötig, um das Trauma aufzuarbeiten. Je nach Schwere der Erkrankung kann auch eine zusätzliche medikamentöse Behandlung sinnvoll sein. „In der Regel ist der Hausarzt der erste Ansprechpartner“, sagt Dr. Björn Nolting. „Er kennt seine Patienten sehr gut, kann die psychische Verfassung schnell erfassen und gegebenenfalls an einen Psychotherapeuten oder eine Traumaambulanz überweisen“.

Was können Außenstehende tun, um zu helfen?

Was sich in der Traumatherapie immer wieder als sehr hilfreich erweist, sind stabile, tragfähige Beziehungen aus dem sozialen Umfeld. Freunde und Bekannte, mit denen die Betroffenen über ihre Ängste sprechen können, können den Verlauf einer PTBS entscheidend beeinflussen. „Versuchen Sie der oder dem Betroffenen ein Stück Normalität zu geben. Sorgen Sie dafür, dass Struktur in den Alltag kommt: Nicht im Bett bleiben, sondern aufstehen, vernünftig essen, keinen Alkohol konsumieren und viel raus an die frische Luft gehen und sich bewegen, das kann schon sehr viel bewirken“, so Dr. Björn Nolting.

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Trauma aufarbeiten: Hilfe für junge Betroffene

Wer heute einen Psychotherapieplatz benötigt, muss mit langen Wartezeiten rechnen. Bei Kindern und Jugendlichen sieht die Situation noch düsterer aus: „Es gibt noch zu wenig Psychotherapeutinnen, die auf die Trauma-spezifische Therapie bei jungen Menschen geschult sind“, erklärt Christina Schulte, studierte Psychologin an der Technischen Universität München.

Um dieser Unterversorgung mit Therapieplätzen entgegenzuwirken, haben Forschende und sie gemeinsam mit Trauma-Experten und -Expertinnen der Universität Ulm und Eichstätt-Ingolstadt das Projekt „StAR“ („Stärken, Aufarbeiten und Rüsten für die Zukunft“) ins Leben gerufen. Das kostenlose 12-wöchige Online-Training soll jungen Menschen zwischen 15 und 21 Jahren Techniken an die Hand geben, die ihnen bei der Verarbeitung von traumatisierenden Erfahrungen helfen. „Durch Corona sind für Jugendliche viele wichtige Kontakte und Ressourcen wie Schule oder Freunde weggefallen. Dadurch kann es sein, dass sich die Folgen erlebter traumatischer Erfahrungen plötzlich stärker bemerkbar machen“, so Schulte.

Der Redebedarf ist also groß. Und doch trauen sich junge Menschen oft nicht, sich mit ihren Sorgen und Gefühlen an ihr Umfeld zu wenden. „Viele schämen sich oder haben Schuldgefühle. Und genau hier greift unser Online-Training: Es ist niederschwellig und anonym“, so die Psychologin.

StAR hat bereits einigen Jugendlichen helfen können, erste Symptome zu lindern. Zudem kann die Teilnahme am Training die Hemmschwelle senken, sich später zusätzlich in eine vor-Ort-Therapie zu begeben, sobald ein Platz frei ist.

Nähere Infos zur StAR-Studie und Hilfe für Betroffene
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Veröffentlicht am 25.03.2022

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