Ein Mann sitzt im Rollstuhl und fährt durch eine Fabrikhalle.

Inklusion im Handwerk: Diese Beispiele zeigen, wie es geht

Handwerk und Menschen mit Behinderung: In den Köpfen von vielen Menschen passt das nicht zusammen. Die größten Probleme sind meist Vorurteile oder Unwissenheit. Dabei kann es in der Praxis oft ganz einfach sein. Wir haben mit zwei Menschen gesprochen, die wissen, wie mehr Inklusion im Handwerk gelingen kann.

Menschen mit Behinderung haben es auf dem sogenannten ersten Arbeitsmarkt schwer. Laut der Bundesagentur für Arbeit waren im Jahr 2021 nur rund 1,1 der insgesamt 7,8 Millionen Menschen mit Schwerbehinderung in Deutschland sozialversicherungspflichtig angestellt. Noch deutlicher ist das Inklusionsbarometer der Aktion Mensch, das zeigt: Menschen mit Behinderung werden auf dem Arbeitsmarkt weiterhin strukturell diskriminiert.

Sven Lodewick weiß, wie schwierig die Suche nach einer geeigneten Stelle sein kann. Aktuell macht der 22-Jährige eine Ausbildung zum Orthopädietechnikmechaniker über das Berufsbildungswerk in München. Er befindet sich im dritten Lehrjahr und steht unmittelbar vor dem Abschluss. „Diese Ausbildung zu machen, war mein großer Wunsch“, sagt er.

Denn Sven Lodewick ist selbst auf Hilfsmittel angewiesen. Ein Alltag ohne Rollstuhl ist für ihn fast nicht möglich. „Da ich in meinem Leben bereits viele Erfahrungen mit Gehhilfen oder Rollstühlen gemacht habe, war ich mir sicher, dass diese Arbeit sehr gut zu mir passt und ich auch anderen Menschen mit meiner Erfahrung helfen kann.“

Zur Person: Sven Lodewick

Der 22-Jährige macht eine Ausbildung zum Orthopädietechnikmechaniker über die ICP Stiftung am Berufsbildungswerk in München. Aktuell befindet er sich im dritten Lehrjahr. Wegen einer Körperlähmung ist er im Alltag auf seinen Rollstuhl angewiesen.

Sven Lodwick steht im Rollstuhl sitzend am Bahnsteig vor der fahrenden U-Bahn.
Sabine Gnielka steht vor einem Bürogebäude. © ARNE SCHROEDER

Zur Person: Sabine Gnielka

Als Fachberaterin für Inklusion (EAA) bei der Handwerkskammer zu Köln ist sie Ansprechpartnerin für Handwerksunternehmen bei Fragen rund um das Thema Inklusion. Davor hat sie viele Jahre als Tischlermeisterin gearbeitet. Dort hat sie bereits reichlich Erfahrung gesammelt und sagt überzeugt: „Es gibt so viele Beispiele, die beweisen jeden Tag, dass Inklusion auch im Handwerk funktioniert.“

Eines der größten Probleme ist die Barrierefreiheit

Da er auf den Rollstuhl angewiesen ist, war es für Sven Lodewick alles andere als einfach, einen geeigneten Ausbildungsplatz zu finden. In seiner Heimatstadt Emmerich am Rhein war der Bahnhof bis vor Kurzem nicht barrierefrei gestaltet. „Da gab es früher nicht einmal einen Aufzug.“ Also hätte er einen großen Umweg in Kauf nehmen müssen, um die Berufsschule oder einen Arbeitsplatz besuchen zu können.

Zudem konnten sich einige Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber nicht vorstellen, einen Menschen mit Behinderung auszubilden. „Ich habe mich immer proaktiv bei den Betrieben, bei denen ich mich gerne für einen Ausbildungsplatz beworben hätte, gemeldet, um vorab ein Praktikum zu machen“, erzählt Sven Lodewick. Eine gute Gelegenheit, um sich gegenseitig kennenzulernen und anzunähern. „Der Meister eines Unternehmens hat mir dann ins Gesicht gesagt, dass er sich nicht vorstellen kann, einen Rollstuhlfahrer auszubilden.“

Inklusion im Handwerk meistern

Der Fachkräftemangel im Handwerk ist allgegenwärtig. Menschen mit Behinderung werden noch zu selten berücksichtigt. Und das, obwohl diese nicht zwangsläufig arbeitsunfähig sind. Mehr Informationen

Vorurteile und Unwissenheit ausräumen

Dass es sich dabei nicht um einen Einzelfall handelt, sagt auch Sabine Gnielka, Fachberaterin für Inklusion (EAA) bei der Handwerkskammer zu Köln. Leider hätten viele Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber noch immer große Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderung. „Das liegt daran, dass sie sich meist auf die starken Einschränkungen konzentrieren und darauf, was diese Menschen ihrer Meinung nach nicht können“, sagt die Expertin.

In Deutschland leben rund zehn Millionen Menschen mit Behinderung. Etwa 7,8 Millionen davon haben eine Schwerbehinderung. „Dabei haben die meisten Bilder von deutlich sichtbaren körperlichen Einschränkungen im Kopf“, sagt Sabine Gnielka.

Doch Behinderung ist nicht gleich Behinderung. „Wer zum Beispiel einen Diabetiker einstellt, bekommt davon im Arbeitsalltag häufig nicht einmal etwas mit.“ Auch für Menschen mit einer Hörschädigung sei es beispielsweise möglich, den Arbeitsplatz so zu gestalten, dass diese problemlos dem Alltagsgeschäft nachgehen können.

Inklusion in Handwerksbetrieben fördern

„Es gibt so viele Beispiele, die zeigen, dass Inklusion auch im Handwerk funktioniert“, betont Sabine Gnielka. Sie weiß, wovon sie spricht. Als Tischlermeisterin hat sie teilweise selbst mit Menschen mit Behinderung gearbeitet. Inzwischen ist sie als Fachberaterin für Inklusion (EAA) bei der Handwerkskammer zu Köln aktiv.

In dieser Funktion greift sie Handwerksbetrieben beim Thema Inklusion unter die Arme. Sie informiert, berät und unterstützt: „Ich kläre die Unternehmen auf, was es bei Ausbildung, Neueinstellung und Beschäftigung zu beachten gilt und welche Fördermöglichkeiten es gibt.“ Dabei hilft sie sogar bei der Antragstellung. „Meine Unterstützung von Betrieben reicht von einem kurzen Telefongespräch bis hin zu einer Begleitung über mehrere Jahre.“

„Ich kenne das Handwerk, habe sowohl in der Werkstatt als auch auf Baustellen gearbeitet“, erklärt sie. Daher weiß sie auch, welche Schwierigkeiten und Hürden es geben kann und welche Fragen die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber umtreibt. Oder, anders formuliert: „Ich habe gesehen, was bei der Integration von Menschen mit Behinderung alles möglich ist, wenn Betriebe offen sind.“

Vorurteile machen krank

Die IKK classic unterstützt Menschen dabei, einen gesunden Lebensstil zu führen. Dazu gehört auch ein gesunder Umgang miteinander – denn Diskriminierungserfahrungen führen zu Erkrankungen. Um das zu verhindern, gilt es die Ursache zu bekämpfen und Vorurteile abzubauen.

Alle Infos zur Studie

In vielen Unternehmen wird Inklusion bereits gelebt

Die Frage nach positiven Beispielen wird der Expertin besonders häufig gestellt. „Da gibt es natürlich viele tolle Geschichten“, sagt sie. „Für mich ist die beste Inklusion jedoch die, die ganz unaufgeregt stattfindet. Viele Unternehmen leben Inklusion bereits in ihrem Alltag. Manchmal sogar, ohne es zu wissen.“ Nämlich dann, wenn sie gar nicht merken, dass eine Kollegin oder ein Kollege eine Behinderung hat. „Wenn man einmal seine Vorurteile beiseitegelegt hat, dann ist es gar nicht schwer“, betont sie.

Sven Lodewick hat während seiner Ausbildungszeit ebenfalls positive Erfahrungen gemacht. „Bei meinen Praxisphasen sind mir die Menschen, mit denen ich zusammengearbeitet habe, sehr offen begegnet“, sagt er. „Da gab es keine Berührungsängste.“

Auch in der Berufsschule habe er sich schnell mit Mitschülerinnen und -schülern sowie den Lehrkräften angenähert. „Ich war, glaube ich, der erste Rollstuhlfahrer an dieser Schule“, sagt er. Weil das Gebäude denkmalgeschützt sei, sind Umbaumaßnahmen kompliziert. Es war nicht alles barrierefrei gestaltet. „Jedoch waren die Menschen um mich herum sehr hilfsbereit und entgegenkommend“, betont er.

Für den 22-Jährigen ist Inklusion keine Einbahnstraße. Deshalb geht er im Alltag offen mit dem Thema um. „Ich muss ja meinem Gegenüber erklären können, auf welche Form der Hilfe ich angewiesen bin“, sagt er. „Nur so kann er mich verstehen.“ Das schafft Verständnis auf beiden Seiten.

Hilfe bei der Arbeitsuche und Vermittlung

Seinen Ausbildungsplatz beim Berufsbildungswerk in München fand Sven Lodewick nach seinen schlechten Erfahrungen auf dem ersten Arbeitsmarkt über die Jobvermittlung der Agentur für Arbeit.

Die Agentur für Arbeit sei auch für Arbeitgebende eine optimale Anlaufstelle, sagt Sabine Gnielka: „Wir Beratenden selbst leisten keine Vermittlung.“ Neben der Agentur für Arbeit sind die Integrationsämter der Bundesländer gute Anlaufstellen. Genauso wie das Webportal „Einfach teilhaben“ vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales.

 

IKK BGM-Angebote für Betriebe

Gesunde Mitarbeiter – starker Betrieb: Betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM) umfasst alle gemeinsamen Maßnahmen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern zur Verbesserung der Gesundheit am Arbeitsplatz. Mehr zu BGM

So wird Inklusion gefördert

Hierfür kommen die Fachberatenden für Inklusion, wie Sabine Gnielka, ins Spiel. Sie sind die „Einheitlichen Ansprechstellen für Arbeitgeber“ oder kurz: EAA. Diese Beratungsangebote gibt es in jedem Bundesland. Eine Übersicht, über die für sie zuständige Stelle finden Handwerkerinnen und Handwerker bei den Integrationsämtern.

Förderleistungen gibt es in vielen Bereichen, erklärt die Expertin. Allein als Ausbildungs- oder Einstellungsprämie kann der Betrieb im Rahmen von Sonderförderungsprogrammen eine stattliche Zahlung erhalten. „Und das dafür, dass man einen Menschen mit einer Schwerbehinderung ausbildet oder einstellt.“

Dazu gibt es viele weitere Zuschüsse für eine behindertengerechte Einrichtung und Ausstattung des Arbeitsplatzes. Sven Lodewick kann beispielsweise keine Not-Aus-Schalter mit dem Fuß betätigen. Also müssten Maschinen so umgerüstet werden, dass er den Not-Aus-Schalter mit der Hand betätigen kann. Zudem kann die Förderung der nicht-behinderungsbedingten Maschine bei Schaffung von Ausbildungs- oder Arbeitsplätzen für schwerbehinderte Menschen beantragt werden.

„Es gibt inzwischen so viele technische Möglichkeiten und Hilfsmittel“, sagt die Inklusionsberaterin. Auch im Handwerk. Viele davon kommen den anderen Angestellten ebenfalls zugute: Hebehilfen zum Beispiel. „Es kann durchaus präventiv wirken und verhindern, dass durch Fehlbelastungen eine Erkrankung entsteht, aufgrund derer gegebenenfalls später ein Grad der Behinderung festgestellt wird.“

Dazu gibt es viele weitere Möglichkeiten, um Betriebe zu fördern, die Menschen mit Schwerbehinderung oder diesen Gleichgestellte neu einstellen oder beschäftigen. Zum Beispiel einen Eingliederungszuschuss, Zuschüsse bei außergewöhnlichen Belastungen oder einen Zuschuss, um die Beschäftigung zu sichern, wenn der Arbeitsplatz eines Menschen mit Behinderung gefährdet ist.

Förderleistungen werden durch die Ausgleichsabgabe finanziert

Rein rechtlich gesehen, sind die meisten Unternehmen sogar dazu verpflichtet, Menschen mit Schwerbehinderung einzustellen. Bei mehr als 20 Arbeitsplätzen, müssen laut § 154 SGB IX mindestens fünf Prozent davon mit schwerbehinderten Menschen besetzt werden. Ansonsten müssen Firmen die Ausgleichsabgabe bezahlen. Deren Höhe richtet sich nach der Zahl der besetzten Pflichtplätze.

„Aus diesen Mitteln werden die Förderleistungen finanziert“, erklärt Sabine Gnielka. Das seien also keine Steuergelder, wie viele Menschen immer denken. Denn trotz der gesetzlichen Verpflichtung bezahlen viele Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber lieber die Ausgleichsabgabe, als Menschen mit Behinderung einzustellen. Dabei sollten sie sich gerade in Zeiten des Fachkräftemangels nicht mehr vor diesem Thema verschließen.

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