Vielfalt in der Fahrradwerkstatt: Zwei junge Erwachsene mit unterschiedlichem Hintergrund reparieren gemeinsam ein Fahrrad.

Diversity als Erfolgs­geschichte: Wie Vielfalt die Fahrrad­werkstatt R18 antreibt

Wer für seinen Betrieb mehr kreative Ideen und Talente sucht, sollte auch mal Menschen mit ungewöhnlichem Lebenslauf einstellen. Der beste Beweis dafür: Die Fahrradwerkstatt R18. Hier bekommt jeder eine Chance – ganz egal, wie schwer der Rucksack an Problemen ist. Wieso das Geschäft trotzdem wie geschmiert läuft.

„Unsere jungen Beschäftigten bringen einen Rucksack mit – und zwar einen voll mit schweren Steinen. Die wollen wir zertrümmern“, umschreibt Leiter Fritz Winbeck die Aufgabe der Fahrradwerkstatt R18. Den Münchner Betrieb, eine Einrichtung der berufsbezogenen Jugendhilfe, gibt es in dieser Form seit 1985. Seit jeher sind Diversität und kulturelle Vielfalt in der Unternehmenskultur fest verankert. Ihren Namen verdankt die Werkstatt ihrem ersten Standort: der Riesstraße 18 in München.

R18 stellt junge Menschen unter 25 Jahren ein, die einer besonderen Förderung bedürfen. Und zwar aus ganz unterschiedlichen Gründen: „Die Problematiken reichen von psychischen Krankheiten über Suchtprobleme bis zu prägenden Erlebnissen auf der Flucht nach Deutschland“, so Winbeck, der selbst studierter Sozialpädagoge und seit vielen Jahren Führungskraft ist. Doch gerade von dieser Vielfalt in der Belegschaft profitiert die ganze Werkstatt. Man könne viel voneinander lernen, erzählt Winbeck. Und wenn alles läuft, mache die Arbeit einen „Sau-Spaß“. Jedoch sieht der Weg dahin an manchen Stellen vielleicht etwas anders aus als in klassischen Unternehmen.

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Handwerk trifft Jugendarbeit

Das fängt beim Kernteam um Fritz Winbeck an. Neben zwei Handwerksmeistern und einer festen Angestellten im Laden gehört nämlich auch eine Sozialpädagogin zur Belegschaft. Die pädagogische Fachkraft steht den jungen Beschäftigten in ihrem Arbeitsalltag zur Seite – schließlich müssen sich manche Mitarbeitenden erst einmal daran gewöhnen, überhaupt einen geregelten Tagesablauf zu haben.

Insgesamt bietet die Fahrradwerkstatt zwölf sogenannte Maßnahmenplätze an: vier für die anerkannte Ausbildung zur Fahrradmonteurin oder zum Fahrradmonteur und zwei für die Ausbildung im Bereich der Fahrradmechatronik. Die restlichen sechs Plätze sollen als „Vorschaltmaßnahmen“ jungen Menschen zur beruflichen Orientierung dienen. Übrigens: Wer bei R18 anfangen möchte, durchläuft, wie in anderen Unternehmen auch, ein standardisiertes Bewerbungsverfahren. Falls es jemand nicht schafft, gibt es jedoch mehr als nur eine nüchterne Absage seitens der Werkstattleitung: In einem Gespräch reflektiert man gemeinsam mit den jungen Menschen, woran es gelegen hat – und vermittelt bei Interesse auch Alternativen, beispielsweise in anderen Unternehmen.

Diversity heißt auch: Jungen Menschen eine Stimme geben

Die Handwerkerinnen und Handwerker müssen in einem Unternehmen wie R18 mehr leisten, als „nur“ Fahrräder zu reparieren. „Wer bei uns arbeitet, muss Lust auf Jugendarbeit haben“, betont Winbeck. Eine pädagogische Ausbildung sei zwar nicht notwendig, jedoch bietet R18 innerhalb des Trägerverbands der evangelischen Jugendhilfe zahlreiche Fortbildungen sowohl im handwerklichen als auch im pädagogischen Bereich an. Auf Weiterbildung und Austausch innerhalb der Branche legt Winbeck großen Wert: „Ob Schulung oder Fachtagung – man lernt nie aus.“

Wo so viele verschiedene Menschen zusammenkommen, zählt vor allem eines: Kommunikation. „Bei uns sind Büro und Werkstatt quasi Tür an Tür“, erzählt Winbeck, „das erleichtert vieles. So können die Mitarbeitenden immer auf eine Führungskraft zukommen.“ Neben regelmäßigen Treffen im Team hat jeder und jede junge Beschäftigte zudem einmal pro Woche ein Feedbackgespräch mit der Sozialpädagogin sowie einer Person aus dem handwerklichen Bereich – ein „verzopftes Arbeiten“ von Pädagogik und Handwerk, wie Winbeck das Modell beschreibt.

Sowohl die Beschäftigten als auch die Mitglieder des Kernteams haben in diesen Gesprächen die Möglichkeit, die vergangenen Tage Revue passieren zu lassen. „Die einen reden viel, stellen Forderungen. Aus anderen kriegt man bei kaum einem Thema ein Wort heraus. Unser Ziel ist es, den jungen Menschen eine Stimme zu geben“, so der Werkstattleiter. Schließlich sei es auch später im Berufsleben wichtig, Kritik annehmen zu können, aber auch für die eigenen Bedürfnisse und Rechte einzustehen.

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Vielfalt im Unternehmen als Erfolgsfaktor

Doch so harmonisch es bei R18 auch zugeht: Auch hier läuft nicht immer alles rund. Vor allem für die Fachkräfte, die die jungen Beschäftigten betreuen, kann es laut Winbeck oft anstrengend werden. Schließlich gilt es, sowohl den jungen Menschen mit ihren individuellen Problemen gerecht zu werden als auch den Kunden einen guten Service zu bieten. Quasi eine Mischung aus Diversity Management und Alltagsgeschäft also.

Denn: „Wir sind keine Freizeiteinrichtung, sondern ein Unternehmen, das auf kulturelle Vielfalt, aber eben auch auf Qualität setzt“, betont Winbeck. Die Kundschaft werde ganz „normal“ betreut, die Vielfalt sei eine Selbstverständlichkeit – und kein Aushängeschild, um Kundschaft in den Laden zu locken. Warum die Handwerksmeisterinnen und -meister sich das antun? Hierzu hat Winbeck eine Anekdote: Ein Kollege habe in der Vergangenheit mit teuren Rädern und seiner eigenen Werkstatt viel Geld verdient – aber das hat ihn irgendwann nicht mehr erfüllt. So kam der Handwerksmeister also zu R18. Schnell war er begeistert von der Unternehmenskultur und davon, die jungen Menschen auf ihrem Weg zu fördern. „Auch wenn er es sich ruhiger und nicht ganz so aufregend vorgestellt hat“, schmunzelt Winbeck.

Gemeinsam den passenden Weg finden

Viele der jungen Beschäftigten beenden ihre Ausbildung und bleiben dem Handwerk rund ums Zweirad auch nach R18 treu. „Das kann ich momentan auch echt empfehlen, denn dank Corona boomt der Fahrrad-Markt“, erzählt Winbeck. Aber: Es gebe auch junge Menschen, die schlichtweg noch nicht so weit sind, ins Arbeitsleben einzusteigen. „Da wiegt der Rucksack zu schwer“, so der Werkstattleiter. Doch wer einmal bei R18 war, wird nicht allein gelassen – das Unternehmen verfügt über ein großes Netzwerk. „Dann schauen wir gemeinsam, ob sich nicht beispielsweise doch noch Therapie- oder andere Maßnahmen finden lassen.“

Es gibt aber auch Mitarbeitende, die sehr wohl schon weit genug sind – und R18 trotzdem verlassen. „Ein talentierter junger Mann wechselte zum Beispiel in eine Computerfirma“, erinnert sich Winbeck. „Wir leisten gern Vermittlungsarbeit für diejenigen, für die die Arbeit am Rad nichts ist.“ Denn ob die Angestellten ihre Ausbildung fertig oder etwas ganz anderes machen, hat für den Werkstattleiter nicht unbedingt Priorität: „Ich bin glücklich, wenn wir den jungen Menschen etwas mitgeben können. Hauptsache, sie finden eines Tages etwas, das sie begeistert.“ Er könne allen Unternehmen, Personalverantwortlichen und Führungskräften nur ans Herz legen, Bewerberinnen und Bewerbern eine Chance zu geben, die nicht auf den ersten Blick perfekt wirken. Nur so entsteht eine soziale Unternehmenskultur, die von Diversität und Wertschätzung geprägt ist. Sein Learning: „Umdenken lohnt sich. In diesen Menschen steckt so viel Potenzial – man muss es nur freilegen und fördern.“

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